Einfuehrung
Erwachen (auch bekannt als Erleuchtung, Selbsttranszendenz, Selbstverwirklichung und viele andere Begriffe) ist ein Thema, das in vielen religiösen und spirituellen Traditionen diskutiert wird. Jede dieser Traditionen hat ihre eigene Karte vom Weg zur Erleuchtung und verwendet individuelle Modelle und eigenes Vokabular. Alle stimmen darin überein, dass der Prozess des Erwachens eine Reihe von mystischen, spirituellen oder religiösen Erfahrungen beinhaltet, die eine Serie von Einsichten und Erkenntnissen auslösen und zu einer tiefgreifenden Veränderung in der Wahrnehmung von dir selbst und der Welt führen. Jede scheint jedoch ein anderes Bild davon zu zeichnen, wie Erleuchtung, das Ziel oder Ende des Erwachensprozesses, aussieht.
Ich habe in den letzten drei Jahrzehnten unzählige Stunden damit verbracht, sowohl traditionelle Texte als auch zeitgenössische Berichte zu lesen, um zu verstehen, wie Menschen über Erwachen und Erleuchtung sprechen. In den letzten Jahren hatte ich auch Gelegenheit, mit vielen Freunden und Bekannten ausführlich über intensive, spirituelle Erfahrungen zu reden. Zudem habe ich selbst umfangreiche persönliche Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt.
Etwas ist mir bei all diesen Beispielen aus dem wirklichen Leben aufgefallen: Unabhängig davon, welchen Traditionen sie folgen oder welche Praktiken sie verwenden, die Erwachensprozesse der Menschen haben sich fast immer anders entwickelt, als es die traditionellen Schriften oder Lehren haben erwarten lassen. Mir ist auch aufgefallen, dass keine zwei Menschen die exakt gleichen Erfahrungen in der exakt gleichen Reihenfolge machen. Anfangs war ich darüber sehr verwundert. Mit der Zeit habe ich mir aber gedacht, warum nicht? Warum sollten wir angesichts der Unterschiede zwischen Menschen in so ziemlich allen Aspekten unserer geistigen, körperlichen, psychologischen und kulturellen Veranlagung erwarten, dass spirituelle Entwicklung eine Einheitsgröße für alle ist?
Dieses kurze Buch erforscht solche Unterschiede. Es ist für fortgeschrittene, spirituell Suchende und Erfahrende gedacht. Der Leser, den ich hier vor Augen habe, ist jemand, der sich bereits mitten in seinem eigenen Erwachensprozess befindet, der bereits einige tiefe spirituelle Einsichten oder Phänomene erlebt hat und der nach Anleitung sucht, wie er das, was er entdeckt hat, vertiefen oder in benachbarte Bereiche ausweiten kann. Hast du noch keine solchen Erfahrungen gemacht, empfehle ich dir, mein einführendes Buch A Lamp Unto Yourself zu lesen, das für dich mehr Sinn ergeben wird.
Bist du ein Akademikerkollege und suchst eine wissenschaftliche Abhandlung zu diesem Thema, ist dies ebenfalls nicht das richtige Buch für dich. Ich bin gerade dabei, ein formelles, wissenschaftliches Forschungsprojekt zu starten, in dem fundierte Praktizierende zu langfristiger spiritueller Entwicklung befragt werden. Zum Zeitpunkt, an dem ich dies schreibe, habe ich jedoch noch keine Interviews durchgeführt oder Zugang zu den Studiendaten gehabt. Dieses Buch ist daher völlig unabhängig von meiner akademischen Forschung zu sehen und hat nichts mit meiner “Arbeit” als Universitätsprofessor zu tun. Es sollte eher als ein literarisches denn als ein wissenschaftliches Werk betrachtet werden.
Auf jeden Fall habe ich hier versucht, eine Karte oder ein Modell des Erwachens vorzustellen, das unabhängig von jeder Tradition ist und das die große Bandbreite an unterschiedlichen Erwachenserfahrungen, die ich erlebt und von denen ich gehört habe, einbezieht und bestätigt. Mit dieser neuen Landkarte hoffe ich ein, wie ich meine, wesentliches Manko bezüglich der Art und Weise zu thematisieren, wie die meisten Menschen über Erwachen sprechen, nämlich die Darstellung mittels Stufen oder Phasen. Wie du sehen wirst, stelle ich hier ein alternatives Modell vor, das sich auf Prozesse statt auf einzelne Schritte konzentriert. Diese neu konzipierte Landkarte basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen, Gedanken und Meinungen und repräsentiert meinen Kenntnisstand zum Zeitpunkt dieser Niederschrift. Ich habe diese prozessorientierte Karte erfolgreich in meiner spirituell beratenden Arbeit eingesetzt. In diesen Gesprächen habe ich festgestellt, dass es für manche Menschen hilfreich sein kann, eine radikal andere Sichtweise auf das Erwachen zu haben als den traditionellen Ansatz.
In diesem Buch wird mein neues Modell, das ich “mehrfädige Landkarte” nenne, in mehreren Abschnitten vorgestellt. Der erste Teil, den du gerade liest, stellt meine Ansichten über die Vorteile und Unzulänglichkeiten des Kartografierens im Allgemeinen vor sowie die zentrale Metapher meiner neuen Karte – die “Fäden”, d.h. die Haupttypen, Kategorien oder Geschmacksrichtungen von Erwachenserfahrungen. Nach der Einführung werden in den Abschnitten über Leerheit, Einheit, Energie und Unbewusstes der Reihe nach vier Fäden vorgestellt. Sie beschreiben, wie es jeweils ist, wenn sich ein Faden öffnet. Sie beschreiben auch den Entwicklungspfad des Vertiefens, den man erfährt, während man im Laufe der Zeit immer weiter in diese Dimensionen des Erwachens eindringt. Die Abschnitte über das Flechten und Integrieren befassen sich mit der Beziehung zwischen den Fäden und ihrer Integration in das tägliche Leben. Dabei wird die einzigartige und komplexe Art und Weise hervorgehoben, wie Menschen diese Dynamiken erleben. Schließlich beschreibt ein Abschnitt über das Loslassen der Fäden das Ende dieser Landkarte, wenn die Ideen des Erwachens, der Erleuchtung und der spirituellen Reise nicht länger wichtig sind.
Ich glaube zwar, dass eine neue Landkarte für moderne, spirituelle Entdecker dringend notwendig ist, aber ich glaube auch, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg finden muss. Selbst wenn du zu Beginn einer der etablierten spirituellen Traditionen folgst, wird dieses System irgendwann überwunden werden müssen. Da dem so ist, ist es mein Ziel, dir dabei zu helfen, die einzigartigen Merkmale deines eigenen Prozesses zu erkennen, anzunehmen und zu vertiefen – was auch immer sie sein mögen – anstatt dich zu verformen, um in diese oder jene Vorstellung von Erwachen zu passen.
Beim Lesen wirst du feststellen, dass es eine Frage gibt, die ich hier nicht beantworte, nämlich, was Erwachen tatsächlich ist. Ist es ein neurologischer Prozess, der vollständig durch Veränderungen im Gehirn erklärt werden kann? Ist es ein metaphysischer Prozess, der durch Karma, Energiefelder oder göttliche Intelligenz erklärt werden kann? Ich habe keine feste Ansicht darüber, was Erwachen letztendlich ist. Wenn du dieses Buch bis zum Ende liest, wirst du feststellen, dass das Verschwinden solcher Fragen selbst Teil des Erwachensprozesses ist. Mein Standpunkt ist, dass ich selbst keine ontologischen Behauptungen mehr aufstellen kann oder an sie glauben (d.h. Behauptungen darüber, was letztendlich wahr ist). Ich zweifle nicht daran, dass Erwachen stattfindet und dass es durch Erfahrungen beschrieben werden kann. Jeder Versuch jedoch, daraus eine bestimmte Ontologie (d.h. eine feste Weltanschauung darüber, was wirklich ist) abzuleiten, wird meiner Meinung nach immer scheitern. Während andere Menschen sich für ontologische Fragen interessieren mögen, ist alles, was ich hier geschrieben habe, phänomenologisch zu sehen: also lediglich eine Beschreibung, wie die Dinge zu sein scheinen und kein Versuch festzulegen, wie sie tatsächlich sind.
Warum brauchen wir eine neue spirituelle karte?
Von dem bekannten polnischen Wissenschaftsphilosophen Alfred Korzybski (1879-1950) stammt das berühmte Diktum, dass “eine Karte nicht das Gebiet ist, das sie darstellt” (Science and Sanity, S. 58). Diese wichtige Erkenntnis ist der Ausgangspunkt für dieses Buch und der wesentliche Hintergrund für alles, was ich sagen werde. Der Leser muss einfach verstehen, dass dieses Buch eine Übungsaufgabe im Erstellen einer Landkarte ist; es ist nicht das Gebiet.
Alle Kartographen wissen, dass unterschiedliche Karten uns ein unterschiedliches Verständnis des Territoriums vermitteln, und jede hat ihre eigenen Vorteile, Nachteile und Verzerrungen. Nimm zum Beispiel verschiedene Arten und Weisen, wie der kugelförmige Globus auf eine flache zweidimensionale Oberfläche projiziert wird. Wie du dich vielleicht erinnerst, hast du in der Grundschule oder Oberschule gelernt, dass es dazu viele verschiedene Methoden gibt, von denen drei in der folgenden Abbildung dargestellt sind.

Die Mercator-Projektion auf der linken Seite ist den meisten Menschen im Westen wohl am geläufigsten. Diese Art von Karte hat einen klaren Vorteil als hilfreiche Navigationskarte, denn die geraden Linien auf dieser Karte sind identisch mit festen Kompasspeilungen. Das ist einer der Hauptgründe für ihre Beliebtheit. Die Mercator-Projektion hat jedoch auch die Eigenschaft, dass die Gebiete verzerrt werden, je weiter auf der Karte man nach Norden oder Süden kommt. Wenn du bei den Polargebieten ankommst, hat die Karte jede Proportionalität verloren, so dass es so aussieht, als wären die Landmassen der Antarktis und Grönlands so groß wie der Rest der Welt zusammen, was in Wirklichkeit sicher nicht der Fall ist.
Die Galls-Peters-Projektion, die in Großbritannien und von einigen internationalen Organisationen verwendet wird, stellt die relative Größe der Landmassen auf der Welt viel besser dar. Bei dieser Art von Karte sind die Flächen der Kontinente zwar genauer, was die Quadratkilometer angeht, aber sie sind vertikal und horizontal auf eine Weise gedehnt, dass ihre Form falsch dargestellt wird. Das bedeutet, dass diese Karte, indem sie die Nachteile der Mercator-Projektion korrigiert, neue Nachteile und Verzerrungen mit sich bringt.
Das dritte Bild oben, die Werner-Projektion, korrigiert den Nachteil von sowohl der Mercator- als auch der Galls-Peters-Projektion, die beide kein klares Bild von der kugelförmigen Form der Erde vermitteln. Anhand dieser Projektion können wir zum Beispiel deutlich erkennen, wie nah Nordkanada an Nordrussland liegt. Aber auch hier gilt: Wenn man bestimmte Aspekte des Globus in den Fokus rückt, werden andere Dinge verdeckt. Wir haben die feste Kompassausrichtung verloren und eine Menge Verzerrungen an den Rändern dieser neuen Karte dazu gewonnen.
Ich habe hier nur drei Beispiele aus den unzähligen, möglichen Methoden genannt, wie eine Kugel auf eine flache Oberfläche projiziert werden kann, aber ich denke, du verstehst, worum es geht. Ganz gleich welche Methode verwendet wird, bestimmte Merkmale der Erde werden leichter zu erkennen sein, während andere verdeckt und entstellt werden. Karten werden also immer ihre einzigartigen Vorteile und Verzerrungen haben; man kann keine Vorteile ohne Nachteile haben.
Ein Grund dafür, dass Karten diese Vor- und Nachteile haben, ist, dass sie zwangsläufig einen bestimmten Blickwinkel vorgeben, von dem aus der Nutzer das Gebiet betrachten muss. Es gibt keine Karte, die den Blickwinkel nicht auf eine bestimmte Perspektive festlegt. Alle oben abgebildeten Karten zeigen zum Beispiel die Welt von einem Standpunkt irgendwo im Weltraum aus, von wo aus du auf das gesamte vor dir ausgebreitete Gebiet blickst. Erinnerst du dich dagegen an die Karte von New York von Saul Steinberg, die am 29. März 1976 auf der Titelseite des Magazins New Yorker erschien? Diese Karte platzierte den Betrachter einige Dutzend Meter über der 9. Avenue. Im Vordergrund sieht man die 10. Avenue, dann den Hudson River, einen winzigen Streifen Land mit der Aufschrift “New Jersey”, ein Gebiet, das den ganzen Rest der USA darstellt, den Pazifischen Ozean und dahinter dann China. Das Ziel war ganz klar nicht, die Flächen der verschiedenen Länder oder die Entfernungen zwischen ihnen genau darzustellen, wie bei den anderen Karten oben. Stattdessen ging es darum, eine Weltkarte aus einem extremen New York-zentrierten Blickwinkel zu zeichnen.
Steinberg verfolgte mit dieser Karte ein bestimmtes Ziel, eine bestimmte Kritik, die er vermitteln wollte, und das erinnert uns daran, dass keine Karte frei ist von einer ureigenen Ideologie oder einem Wertesystem. Ein weiteres Beispiel: Ich bin in Südamerika aufgewachsen und in diesem Teil der Welt ist es nicht ungewöhnlich, die Weltkarte auf den Kopf gestellt zu sehen, so dass Norden unten und Süden oben ist. Wenn du sie so umdrehst, zeigt die Karte nicht mehr Europa oben mittig, sondern Südamerika. Während die technischen Informationen der Karte genau gleich bleiben, kann diese einfache Verschiebung der Ausrichtung zu einer ganz anderen visuellen Aussage darüber führen, welche Länder wichtiger sind als andere.
Ein weiteres Merkmal aller Karten ist schließlich, dass sie unterschiedliche Erfahrungseffekte auf ihre Nutzer haben. Als meine Kinder klein waren, haben meine Frau und ich sie oft in Kunstmuseen mitgenommen. Sie schienen diese Erfahrung nie zu genießen, bis wir sie einmal in ein Museum mitnahmen, das eine “Schnitzeljagd”-Karte für Kinder hatte. Anstatt sie chronologisch nach der Epoche der Maler durch die Ausstellung zu führen, wie es der Museumsplan für Erwachsene tat, wurde den Kindern gesagt, dass sie sich im “Papageien”-Raum oder im “Schloss”-Raum befinden. Sie waren nicht mehr gelangweilt, sondern begeistert und neugierig und rannten herum, um die Kunstwerke nach den Gegenständen zu durchsuchen, die laut Karte in diesem Raum zu finden waren. Ich will damit sagen, dass alle Karten unsere Erfahrungen beeinflussen und unsere emotionale Beziehung zu einem Gebiet prägen. Sie können dies offen tun oder uns sogar auf verdeckte oder subtile Weise manipulieren, die wir nicht leicht erkennen können.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Karten sind nicht das Gebiet, alle Karten haben Vor- und Nachteile, alle Karten zwingen uns eine bestimmte Perspektive auf, alle Karten haben versteckte ideologische und politische Ziele und alle Karten beeinflussen unsere Erfahrung mit dem Gebiet und unsere Beziehung zu ihm. Wenden wir diese Erkenntnisse nun auf das vorliegende Thema der spirituellen Karten an.
Es gibt unzählige spirituelle Landkarten, die von vielen traditionellen und modernen spirituellen Systemen und Lehrern verbreitet werden. Die große Mehrheit dieser Karten hat jedoch eine gemeinsame Kernmetapher oder Grundstruktur. Es ist die Vorstellung, dass wir den Prozess des spirituellen Wachstums oder Erwachens in einzelne Stufen, Phasen oder Schritte unterteilen können. Die verschiedenen Traditionen formulieren dies unterschiedlich – die Stufen der Einsicht im Theravada, die 10 Ochsenbilder im Zen, die Bhumis im Mahayana-Buddhismus, die Bewusstseinsebenen in der TM oder in Patañjalis Yoga Sutras und so weiter. Die konkreten Beispiele sind zahlreich, jedes mit seinen eigenen Merkmalen und besonderen, einzigartigen Details.

Eine typische stufenbasierte Karte mit Schritten oder Phasen.
Bildnachweis: Danielravennest auf Wikicommons.
Um das klarzustellen: Ich behaupte keineswegs, dass diese Karten und die zugrunde liegende Metapher der Stufen, Phasen oder Schritte falsch sind. Die oben erwähnten Methoden, die Erde zu projizieren, sind genauso wenig falsch, wie die umgedrehte Karte, Steinbergs Karte von New York oder die Schnitzeljagd im Museum. Kommen wir überein, dass alle diese Karten richtig sind und jede auf ihre Weise wertvoll für ihre eigenen Zwecke und Perspektiven. Aber trotzdem sind sie alle nur Karten; keine von ihnen ist das eigentliche Gebiet.
Wir können auch festlegen, dass die Art und Weise, wie du auf verschiedene spirituelle Landkarten reagierst, Teil deiner einzigartigen Individualität ist. Es könnte sein, dass du an einer spirituellen Tradition teilnimmst, deren Landkarte sich gut mit deinen persönlichen Erfahrungen deckt. Du könntest feststellen, dass diese Landkarte dir hilft, das Gebiet, in dem du dich bewegst, zu verstehen, und dass die Nachteile der Landkarte so klar sind, dass sie keine großen Fallstricke oder blinden Flecken darstellen. Vielleicht bemerkst du, dass deine allgemeine Erfahrung mit der Karte positiv oder sogar inspirierend ist. Ist das der Fall, so ist das fantastisch und es gibt keinen Grund, eine andere Karte auszuprobieren!
Du könntest andererseits festgestellt haben, dass deine Erfahrungen mit Karten, die auf Stufen/Phasen/Schritten basieren, weniger positiv waren. Du könntest bemerkt haben, dass zum Beispiel deine eigenen Erfahrungen in keines der Stufenmodelle passen und du dich deshalb frustriert, verloren oder verwirrt fühlst. Du könntest entdeckt haben, dass es für dich abträglich ist, in einzelnen Schritten zu denken, weil du vielleicht immer wieder überprüfst, „wo du gerade stehst“, was ablenkt oder zwanghaft ist. Oder du hast bemerkt, dass du viel Energie darauf verwendest, dich und andere danach zu beurteilen, auf welcher Stufe sie sich befinden. Vielleicht hast du das Gefühl, dass die hierarchische Struktur der Landkarte für dich kontraproduktiv ist.
Kannst du davon etwas nachvollziehen, dann wird dir dieses Buch eine alternative Landkarte vorstellen, die du in Betracht ziehen kannst. Meine neue Landkarte basiert auf einer ganz anderen Metapher, als es normalerweise der Fall ist. Um es klarzustellen, möchte ich noch einmal betonen, dass es hier nicht darum geht zu behaupten, dass meine Karte besser ist als die anderen. Sie ist einfach nur anders. Meine neue Karte wird das Gebiet auf eine neue Art und Weise darstellen, die andere Dinge ans Licht bringt. Natürlich wird sie zwangsläufig auch ihre eigenen Nachteile und Verzerrungen mit sich bringen. Sollte sie also für dich nicht funktionieren, kehre ruhig zu dem zurück, was du vorher gemacht hast, oder finde ein anderes Modell, das für dich noch besser funktioniert.
Ich will damit nur sagen, dass wir uns auf keine Karte fixieren müssen, weil keine Karte das eigentliche Gebiet darstellt. Viele spirituell Suchende und Lehrende gehen aber leider nicht so mit ihren spirituellen Landkarten um. Allzu oft klammern sich Menschen an ihre Landkarten und sind entschlossen, sie zu einzusetzen, auch wenn sie nicht hilfreich oder sogar schädlich sind. Sie werden zu Fundamentalisten und bestehen darauf, dass ihre Landkarte die einzig richtige ist. Sie betrachten ihre Karte als die ultimative Wahrheit und bezeichnen jeden, der eine andere Karte verwendet, als wahnhaft. Manche stellen ihre Karten sogar auf ein Podest, verbeugen sich manchmal buchstäblich vor ihnen und beten sie an.
All das ist Unsinn. Wiederholen wir noch einmal Alfred Korzybskis weise Formulierung: “Eine Karte ist nicht das Gebiet.” Karten sind lediglich Hilfsmittel, die uns helfen sollen, uns in einem Gebiet zurechtzufinden. In dem Moment, in dem uns diese Hilfsmittel nicht mehr helfen, sollten wir sie loslassen und uns welche zulegen, die unseren Bedürfnissen besser entsprechen. Dieses Buch ist ein Experiment darin, ein neues Hilfsmittel zu erschaffen, es auszuprobieren und zu sehen, ob es für dich funktioniert.
Die Metapher der Fäden
In diesem Buch wird eine Landkarte oder ein Modell des Erwachens vorgestellt, das auf der Metapher der Fäden basiert und nicht auf der Metapher der Stufen, Phasen oder Schritte. Was für Fäden, fragst du dich? Stell dir Fäden vor, die zum Weben verschiedener Textilien verwenden werden. Es gibt sie in allen Farben des Regenbogens und in verschiedenen Stärken, vom dünnen Garn, das du in einer Nähmaschine verwendest, bis hin zu dicken Garnen zum Stricken oder Häkeln. Im weiteren Verlauf dieses Textes werde ich darüber sprechen, wie diese Fäden zu einer komplexen, einzigartigen und sogar chaotischen Kreation verwoben werden, die einzig dir entspricht.

Jeder Mensch nimmt seine Fäden auf und webt sein eigenes, einzigartiges und eigenwilliges Geflecht.
Jede Karte hat natürlicherweise ihre eigenen Vor- und Nachteile, wie ich im vorherigen Kapitel versucht habe, zu verdeutlichen. Der Hauptvorteil dieser neuen Landkarte ist, dass wir uns von der schrittweisen Denke lösen können, auf dem die Landkarten der Stufen/Phasen/Schritte beruhen. Diese Art des Denkens sagt: “Ich bin jetzt auf Stufe 2 des Erwachensprozesses. In diesem Stadium sollten die folgenden Dinge in meiner Erfahrung vorhanden sein, um zu bestätigen, dass ich diese Stufe erreicht habe. Meine Aufgabe ist es nun, den mir gegebenen Anweisungen zu folgen, um zu Stufe 3 zu gelangen, und so weiter.” Auch gegen diese Art zu denken ist nichts einzuwenden, wenn sie für dich funktioniert. Ist das aber nicht der Fall, so ist dies eine Einladung, eine andere Denkweise auszuprobieren, die dir hilft, das Geschehen zu verstehen.
Die Metapher der Fäden hilft uns, in Prozessen zu denken und nicht in einzelnen, aufeinanderfolgenden Schritten oder Errungenschaften. Ich glaube, dass dies eine flexiblere, weiträumigere Landkarte ist, die besser der vielfältigen Weise gerecht werden kann, in der sich der Erwachensprozess vieler Menschen entfaltet. Es ist jedoch zu erwarten, dass, sobald wir uns vom schrittweisen Denken entfernen, wir einige der Vorteile dieser Landkarten verlieren. Bedenke, dass es bei jeder kartografischen Entscheidung auch Kompromisse gibt. Wir opfern in diesem Fall die Präzision und Gewissheit, uns in einem klaren System von Ebenen und Stufen verorten zu können. Wir können uns nicht mehr so leicht mit anderen vergleichen, um zu sehen, wo wir im Verhältnis zueinander im Erwachensprozess stehen. Wir werden auch die Fähigkeit verlieren, unsere Erfahrungen anhand der Terminologie etablierter stufenweiser Traditionen selbstbewusst zu definieren.
Trotz des Verlusts dieser Vorteile, schickt diese neue Karte unverblümt voraus, dass diese traditionellen Modelle nicht immer präzise sind und nicht unbedingt für jeden passen müssen. Die neue mehrfädige Landkarte stellt Individualität und Flexibilität über die Berechenbarkeit und Sicherheit der Tradition. Das kann erfrischend sein oder sich auch haltlos anfühlen. Unterschiedliche Karten werden für unterschiedliche Menschen besser funktionieren, mitunter sogar für denselben Menschen zu unterschiedlichen Zeiten. Wie du diese Karte verwendest (oder ob du sie verwendest), ist also ganz dir überlassen. Du kannst sogar beide Arten von Karten kombinieren, um dein eigenes persönliches Modell zu erstellen, wenn du möchtest.
Der Grundgedanke der mehrfädigen Landkarte ist, dass jeder Faden einen wichtigen Aspekt, Bereich oder ein Thema im Erwachensprozess darstellt. In den nächsten vier Kapiteln werden vier der häufigsten Fäden vorgestellt, die viele Menschen während des Erwachens erleben. Aber nicht jeder erlebt sie alle. Es gibt Erwachen mit drei, zwei und selten sogar nur mit einem Faden. Betrachtest du deinen eigenen Erwachensprozess, findest du vielleicht noch weitere Fäden, die du dem Modell hinzufügen möchtest. Die Anpassungsfähigkeit dieser Karte ist einer ihrer größten Vorteile.
Gemäß dieser Karte ist nicht alles, was während des Erwachens geschieht, unbedingt ein Faden. Es gibt auch Epiphänomene. Einen Faden unterscheidet von einem Epiphänomen, dass ersterer ein Element des Erwachensprozesses darstellt, das Teil eines Entwicklungspfades ist. Fäden sind Aspekte, die sich öffnen, allmählich vertiefen und sich auf einen Endpunkt zubewegen. Epiphänomene hingegen sind Dinge, die auf dem Weg geschehen, die aber keine zentralen oder Kernbestandteile des Erwachens sind. Jede Art von spiritueller Erfahrung kann dazu zählen, die sporadisch oder dauerhaft auftritt, aber keinen Entwicklungsverlauf hat, sich nicht vertieft oder mit der Zeit entfaltet.
Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Stellen wir uns zwei unterschiedliche Menschen vor, die beide Kundalini-Energie als Teil ihres Erwachensprozesses erfahren. In Fall A erlebt der Mensch zu verschiedenen Zeiten des Erwachens starke Energieströme, die durch den Körper fließen. Diese scheinen jedoch nicht miteinander verbunden zu sein und entwickeln sich nicht zu einer allumfassenden Vision eines vollkommen aus Energie bestehenden Kosmos, wie wir später im Kapitel „Energie“ besprechen werden. Es sind starke Erfahrungen, aber epiphänomenal. In Fall B hingegen, hat der Mensch vielleicht nur wenige und vereinzelte Kundalini-Erfahrungen, aber sie scheinen im Laufe der Zeit aufeinander aufzubauen. Schließlich gipfeln diese Energieerfahrungen in der Erkenntnis, dass sich in jedem Moment das gesamte Universum dynamisch manifestiert und aus einer ursprünglichen Energiequelle hervorgeht. Wir können Kundalini als einen Faden für diesen Menschen ansehen, da es einen Entwicklungspfad der Vertiefung und Entfaltung gibt.
Einer der Hauptvorteile der mehrfädigen Landkarte ist, dass jeder Faden eine eigene Dimension des Erwachens darstellt (oder sogar eine eigene Art oder einen eigenen Typ des Erwachens), die separat verstanden und bearbeitet werden kann. Eine jede erfordert eine eigene Art von Unterstützung, was bedeutet, dass du nicht unbedingt alle Antworten in einer einzigen Gemeinschaft von spirituellen Praktizierenden finden musst. Du könntest z.B. feststellen, dass eine bestimmte Form der Meditationspraxis einen Faden sehr gut unterstützt, während ein anderer Faden besser mit Qigong, schamanischem Trommeln, Psychotherapie, Ernährung, Bewegung oder etwas anderem angegangen werden kann. Verstehst du diese Dimensionen des Erwachens als getrennte Fäden, musst du nicht mehr einen einzigen Lehrer, ein Buch oder eine Praxis finden, die alle deine Bedürfnisse anspricht. Du kannst stattdessen eine Synthese aus verschiedenen Traditionen bilden, die für deine ganz persönliche Situation geeignet ist. Mit anderen Worten: Du wirst ermächtigt.
Ein weiterer Aspekt dieses Modells ist, dass es dir helfen kann, einige besonders überraschende oder schwierige Erfahrungen zu verstehen und zu integrieren, denen du während eines Erwachensprozesses begegnen könntest. Stell dir vor, du hast in einer bestimmten Tradition praktiziert und plötzlich machst du Erfahrungen, die nicht in diesen Kontext passen. Hältst du dich strikt an das von deiner Tradition vorgegebene Modell, könntest du deine neuen Erfahrungen als abweichend oder problematisch interpretieren. Mit der mehrfädigen Landkarte könntest du diese neuen Erfahrungen jedoch als einen eigenen Faden erkennen, der durch ein anderes Übungssystem verstanden und bereichert werden kann (z.B. wenn du neben deiner Zen-Praxis eine somatische Therapie machst oder eine Qigong-Praxis beginnst, um deine Advaita-Selbsterforschung zu ergänzen). Die Fähigkeit, auftauchende Erfahrungen auf diese flexible Weise in Kontext zu setzen, kann, so glaube ich, dazu beitragen, spirituelle Notfälle und andere psychische Krisen zu vermeiden.
Um sich erfolgreich mit der hier vorgestellten, faden-basierten Karte zu beschäftigen, braucht man vor allem einen Sinn für offene Fragen. Stufenmodelle ermutigen dich, dich mit den Erwartungen eines bestimmten Systems zu synchronisieren. Glaubst du, du könntest dich auf “Stufe 5” einer bestimmten Tradition befinden (wie auch immer sie benannt ist), musst du deine Erfahrungen mit den traditionellen Beschreibungen dieser Stufe vergleichen, um festzustellen, ob du diese Kriterien erfüllst oder nicht. Mit anderen Worten: Du suchst nach einer Bestätigung für deinen Fortschritt, indem du deine eigenen Erfahrungen mit einer vorgegebenen Norm vergleichst. Die Fäden hingegen, geben vor allem Raum für Individualität und Vielfalt im Ausdruck des Erwachens eines jeden Menschen. Die Karte lädt dich ein, die Einzigartigkeit deiner eigenen Erfahrung ergebnisoffen zu erkunden.
Manche Menschen werden einwenden, dass es so etwas wie ein einzigartiges Erwachen nicht gibt, sondern nur einen legitimen Weg der Einsicht oder ein Ziel der Entwicklung. Wie du aus dem ersehen kannst, was ich bisher hier geschrieben habe (und in Kapitel 7 meines vorherigen Buches, A Lamp Unto Yourself, noch viel ausführlicher besprochen habe), teile ich diese Meinung nicht. Die Formen, die das Erwachen annehmen kann, sind für mich so vielfältig, wie die Menschen auf diesem Planeten. Anstatt sich auf ein einziges Dharma mit großem D zu berufen, das für alle gleich ist, glaube ich, dass das Denken in Begriffen wie “Multidharma” eine zielführendere Philosophie der spirituellen Transformation für die Suchenden und Findenden des 21. Jahrhunderts ist.
Die zentralen Prinzipien meiner Philosophie des Multidharma sind:
- In einem natürlichen Prozess der menschlichen Entwicklung sind spirituelle, mystische oder religiöse Erfahrungen wichtige Momente. Unterschiedliche Begriffe wurden für diesen Prozess verwendet, wie z. B. Erwachen, Selbstverwirklichung, Selbsttranszendenz, Erleuchtung und viele andere. Sowohl die Erfahrungen selbst, als auch der größere Prozess, zu dem sie gehören, sind nachweislich wahr, zutiefst transformativ und, was am wichtigsten ist, für jeden zugänglich.
- In allen Kulturen wird spirituelles Wachstum seit jeher geschätzt, aber unterschiedliche religiöse Traditionen haben sich auf bestimmte Arten von Erfahrungen oder Erkenntnissen spezialisiert und diese in den Vordergrund gestellt. Abgesehen von religiösen Dogmen, hat keine Tradition ein Monopol auf spirituelle Entwicklung oder die einzig richtige Antwort auf die Frage, was das alles zu bedeuten hat.
- Durch bestimmte Praktiken können spirituelle Erfahrungen zuverlässig hervorgerufen werden, aber nicht jeder Mensch reagiert auf diese Techniken in gleicher Weise. Das bedeutet, dass jeder Mensch seine eigenen, maßgeschneiderten Praktiken entdecken muss, die für ihn am besten funktionieren.
- Ein reifer spiritueller Weg wird diese Vielfalt umarmen. Er wird dich dazu befähigen, einen Ansatz zu entwickeln, der gut zu deinen eigenen Bedürfnissen und natürlichen Neigungen passt, anstatt dich zwingen zu wollen, einem bestimmten eng gefassten Dogma oder Übungssystem zu folgen. Der “richtige” spirituelle Weg ist der, der für dich richtig ist.
- Multidharma respektiert und schätzt die Erfahrungen und tatsächlichen Gegebenheiten der Menschen, unabhängig davon, wo sie sich auf ihrem spirituellen Weg befinden, selbst wenn sie entscheiden, sich überhaupt nicht auf Spiritualität einlassen zu wollen. Menschen haben unterschiedliche Talente, Fähigkeiten und Neigungen für bestimmte Bereiche der Spiritualität – genau wie im Sport, in der Kunst oder in anderen Bereichen – doch das macht niemanden besser als einen anderen.
Danksagung
Bevor ich in den Haupttext einsteige, möchte ich dem Omni+Hub danken, einer privaten Gruppe von 20 bis 30 Freunden, die sich im letzten Jahr wöchentlich oder zweiwöchentlich getroffen haben, um fortgeschrittene spirituelle Erfahrungen eingehend zu diskutieren. Bei diesen Treffen und bei verschiedenen Ablegern der Gruppe habe ich viel darüber gelernt, wie Menschen, anders als ich, den Erwachensprozess erlebt haben. Ich hatte auch Gelegenheit, viele der hier verwendeten Arten zu sprechen, in einem intimen und einladenden Rahmen auszuprobieren. Viele Mitglieder der Gruppe haben auch Entwürfe dieses Buches gelesen und mir wertvolles Feedback, Vorschläge und Korrekturen gegeben. Ich möchte mich besonders bei Misha BearWoman Metzler für ihre detaillierten Vorschläge bedanken. Alle verbleibenden Fehler sind natürlich meine eigenen.
Dies vorausgeschickt, möchte ich meinen tiefsten Dank meinem guten Freund, Forschungspartner und unermüdlichen “Denkpartner” Luciano Melo aussprechen. Wir haben so lange und tiefgründig über die Phänomenologie und die Modellierung des Erwachens diskutiert, dass es mir schwerfällt, klar zu bestimmen, wo meine Ideen aufhören und seine anfangen. Was ich hier vorstelle, ist mein eigenes Modell – und ich weiß, dass er in einigen grundlegenden Punkten anderer Meinung ist. Mein Denken zu diesem Thema ist jedoch so sehr unseren vielen, stundenlangen Gesprächen geschuldet, dass es mir irrwitzig vorkäme, würde ich nicht zumindest einen Teil des Verdienstes für das, was hier geschrieben steht, mit ihm teilen.