Der Faden der Leerheit
Dieser erste Faden umfasst eine Reihe spiritueller, mystischer oder religiöser Erfahrungen, die sich auf die Entleerung, Dekonstruktion und Nichtverdinglichung fortschreitender Erfahrungsebenen beziehen. Die Grunddynamik besteht darin, dass zuvor unbestreitbar real scheinende Erfahrungen, nach und nach als rein vom Geist geschaffene Konstrukte erkannt werden. Einige der geläufigen, traditionellen Begriffe für Erfahrungen, die mit diesem Faden verbunden sind, sind Kensho, Satori, Jhana, Samadhi, Nirodha, Nirvana, Sunyata, Anatta und so weiter. Im Englischen spricht man von Nondualität, Weite, Nichtexistenz, Nichtrealität, Nichtdifferenzierung, Zusammenbruch von Subjekt/Objekt, Verlust des Selbst und anderen Begriffen.
Die spezifische Sprache, die Menschen verwenden, um über die Erfahrungen und Einsichten dieses Fadens zu sprechen, kann davon abhängen, aus welcher Vorgeschichte, welchem Glauben und welcher Praxisgemeinschaft sie kommen. Dieser Faden wird priorisiert im Advaita Vedanta, Theravada-Buddhismus, Zen und anderen Traditionen, die sich auf Meditation und Selbsterforschung als wichtigste spirituelle Praktiken konzentrieren. Die Öffnung eines jeden Fadens kann jedoch ganz spontan geschehen, sogar für jemanden, der keinerlei spirituelle Praxis oder religiösen Kontext hat. Bei diesem Faden kann das zum Beispiel während eines traumatischen Erlebnisses passieren, als Ergebnis einer bestimmten Art von Innenschau oder sogar als plötzliche Erkenntnis aus heiterem Himmel.
Jeder der Fäden öffnet sich oder beginnt mit einer bemerkenswerten Erfahrung. Das anfängliche Öffnen des Fadens der Leerheit beinhaltet in diesem Fall fast ausnahmslos das Durchschauen des typischen Ich-Erlebens, das die meisten Menschen für selbstverständlich halten (üblicherweise das “narrative Selbst” oder “getrennte Selbst” genannt). Dies kann ein allmählicher Prozess der Dekonstruktion sein, während das Selbst langsam erodiert oder es kann sich wie ein dramatischer Durchbruch anfühlen, wenn ein großer Teil der Selbststruktur plötzlich zusammenbricht. Hat man keinen Kontext für diese Art von Erfahrung, kann sie überwältigend, verwirrend oder beängstigend sein. Manchmal nehmen Menschen an, dass sie eine psychische Krise oder einen spirituellen Notfall haben. Hat man jedoch bereits einen hilfreichen Kontext für diese Art von Erfahrung oder kann sich diesen aneignen, kann dieses Ereignis als Beginn einer Reise des Erforschens und Vertiefens anerkannt werden, die zur Dekonstruktion und Nichtverdinglichung von allem führt.
Stellt sich diese Art von Erfahrung für dich als epiphänomenal heraus, werden solche Einsichten vielleicht nie wieder auftauchen oder sie werden sich zwar wiederholen, aber nicht zu etwas sehr Bedeutsamem oder Lebensveränderndem werden. Handelt es sich aber wirklich um das Öffnen eines Fadens, dann wird dies per Definition der Beginn eines neuen Transformationspfades werden. Dein Leben wird sich im Lichte dessen was du entdeckst, grundlegend verändern. Bei diesen Veränderungen geht es nicht nur darum, die Auswirkungen des ursprünglichen Ereignisses zu verstehen und zu vertiefen. Es geht auch darum, dass sich im Laufe der Zeit die Grundlagen deiner täglichen Erfahrung verändern, während die Einsichten und Erkenntnisse dieses Fadens auf dich einwirken.
Hat der Entwicklungspfad eines Fadens erst einmal begonnen, kann diese Vertiefung als geradliniger Prozess erlebt werden, aber genauso oft kann es sich anfühlen wie zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück. Genauso kann es sein, dass du in einer großen Tiefe dieses Fadens landest, nur um dann wieder zurückzuspringen. Wie ein Jojo pendelst du rauf und runter entlang des Fadens und durchquerst dabei das gleiche Gebiet mehrmals. Ich habe diese Kapitel zwar eher sequentiell geschrieben, aber es ist der Vorteil einer Karte, die sich auf Prozesse konzentriert, dass wir uns überhaupt keine Gedanken über einzelne Schritte und Phasen machen müssen. Die Dinge können fließend und chaotisch sein. Ist dies wirklich ein Faden für dich, können wir einfach sagen, dass du auf lange Sicht entlang des Fadens eine immer weitere Vertiefung bemerken wirst.
Lässt du dich bewusst auf diesen Vertiefungsprozess ein, so könnte dies Vipassana- oder Zen-Meditation beinhalten, Selbsterforschung im Advaita-Stil oder andere Praktiken, die bestimmte begriffliche Objekte (d.h. andere verdinglichte Vorstellungen neben dem “narrativen Selbst”) gezielt dekonstruieren. Das umfasst aber nicht nur formale Meditation: Du kannst jede Art von Technik anwenden, bei der die Betonung darauf liegt, die phänomenale Erfahrung genau zu beobachten und neugierig zu hinterfragen, wie alles funktioniert. Andererseits gibt es Menschen, die keine strukturierte Praxis brauchen. Sie stellen fest, dass sie einfach in die Erfahrung, die sie gerade machen, „hinein sinken“ oder damit „sitzen“ können, während der Prozess des Dekonstruierens ganz natürlich und mühelos abläuft. Wieder andere Menschen stellen fest, dass sie sich spontan und mit wenig oder gar keiner Übung entlang des Fadens bewegen. Diese Dinge sind von Mensch zu Mensch erstaunlich unterschiedlich.
Eine effektive Methode, das Vertiefen eines Fadens weiterzuentwickeln, ist meiner Meinung nach das Reflektieren über eine zentrale Leitfrage, die den Kern des Fadens bildet. Jeder Faden hat seine eigene Frage, Selbsterforschung oder Koan, die den Kern des Fadens treffen. Sie sind somit perfekt darauf abgestimmt, dich bis zum Ende dieses Entwicklungspfades zu führen. Unterschiedliche Menschen werden unterschiedliche Versionen der Frage für sich entdecken, die am besten funktionieren und dabei die Sprache oder das Vokabular verwenden, das zu ihnen passt. Meine Version der Leitfrage für den Faden der Leerheit lautet:
Was erscheint noch real, wirklich oder gegenwAErtig – und ist es tatsAEchlich so?
Wie genau sich die Vertiefung dieses Fadens entfaltet, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Das Abfallen des narrativen Selbst, mit dem sich dieser Faden öffnet, offenbart für die meisten Menschen ein zugrunde liegendes Bewusstsein oder nicht-persönliches Gewahrsein, das alle Phänomene zu bezeugen scheint. Es scheint, dass dieses Bewusstsein das ganze Leben lang anwesend war, aber durch die Identifikation und Verschmelzung mit dem narrativen Selbst verschleiert wurde. Die Entdeckung dieses zugrunde liegenden Bewusstseins ist ein erstaunlicher und befreiender Moment. Man spürt oft große Glücksgefühle und Freude und viele Menschen glauben, dass sie auf der Stelle vollständig erleuchtet sind.
Es ist wichtig zu erkennen, auch wenn es sich noch so großartig anfühlt, dass dies nur der erste Schritt in einem sehr langen Prozess ist und man nicht übermäßig enthusiastisch oder hochmütig wird. Früher oder später wird sich dein System wieder auf ein “neues Normal” einpendeln. Die meisten Menschen werden an diesem Punkt eine große Enttäuschung erleben und einem weiteren großen Erlebnis hinterherjagen. Es kann hilfreich sein sich daran zu erinnern, dass es bei der Entwicklung entlang eines Fadens nicht um die Gipfelerlebnisse an sich geht, sondern um die sich verändernde Basislinie.
Beim ersten Erwachen zu dem Gewahrsein, das allen Erfahrungen zugrunde liegt, kann es scheinen, als wäre “ich” es, der gerade die Erfahrung macht, das bezeugende Gewahrsein zu sein. Mit der Zeit rückt das Gewahrsein jedoch immer mehr in den Vordergrund und die Identität als narratives Selbst wird immer weniger präsent. Schließlich wirst du feststellen, dass sich die Identität zum Gewahrsein hinbewegt und dort auf stabilere Weise festsetzt. Nun bin ich das unermessliche, grenzenlose Gewahrsein, welches gelegentlich die Erfahrung macht, das kleine alte “Ich” zu sein. Mit anderen Worten: Das grobstoffliche, begriffliche Objekt namens “Ich” wird allmählich entleert. Wird dieser Entwicklungspfad weiter verfolgt, wird die Idee des “Ich” irgendwann keine Bedeutung mehr haben.
Nicht nur das narrative Selbst wird auf diese Weise durchschaut. Sinkst Du tiefer in den Faden der Leerheit, beginnen mit der Zeit auch andere grundlegende Strukturen zu kollabieren und sich aufzulösen. Für die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, ist die Dekonstruktion der Wahrnehmung ein wichtiger Teil dieses Prozesses. Was zuvor dein Geist auf die Schnelle mit dem Konzept “Baum” überlagert hat, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Gebilde aus Tausenden von Farb- und Lichtpunkten. Was der Geist vorschnell als “Verkehrslärm” registriert hatte, wird nun bei näherer Untersuchung als eine Symphonie aus einzelnen Tönen und Klangfarben wahrgenommen. Sind die begrifflichen Überlagerungen weggefallen und werden die zugrundeliegenden Sinnesphänomene scheinbar weniger gefiltert wahrgenommen, erscheinen Objekte strahlender und lebendiger als je zuvor. Es ist, als hättest du einen alten Fernseher mit Hasenohren-Antenne gegen einen hochauflösenden Plasmabildschirm ausgetauscht. Klarheit und Leuchtkraft können atemberaubend sein… bis auch das zur neuen Normalität wird.
Im weiteren Verlauf dieses Fadens werden immer mehr Konzepte dekonstruiert und entdinglicht. Auf jede Phase der Demontage folgt in der Regel eine Phase der Faszination für das, was auf der nächst tieferen Ebene aufgedeckt wird. Das Loslassen von einer Fixierung nach der anderen, kann zu Glückseligkeit, Freude, Frieden, Entspannung und anderen positiven Empfindungen führen. Nach einiger Zeit wird dir jedoch unweigerlich klar, dass diese nächste entdeckte Ebene ebenfalls wieder dekonstruiert werden kann. Der Prozess wiederholt sich wie ein Kreislauf oder eine Spirale. Zu den wichtigsten Meilensteinen auf dem Entwicklungspfad dieses Fadens gehören die Dekonstruktion von “Zeit” in ein zeitloses “Jetzt” und die Dekonstruktion von “Ort” in ein ortloses “Hier”. Wichtige Konzepte, denen zuvor viel Bedeutung beigemessen wurde – wie “Leben und Tod”, “vorher und nachher”, “Ursache und Wirkung” und “dies und das” – werden alle als verdinglichte Konstrukte des Geistes durchschaut.
Schließlich wird selbst die Subjekt/Objekt-Spaltung destabilisiert. Dieser Zusammenbruch, der normalerweise als Nondualität bezeichnet wird, kann auf zwei Arten stattfinden. Der erste Fall ist das Kollabieren des Objekts in das Subjekt, über den eher in Advaita-Kreisen gesprochen wird. Sinnesphänomene werden dabei als aus Gewahrsein bestehend oder als untrennbar vom Bewusstsein betrachtet. Der zweite Fall ist der Zusammenbruch des Subjekts, der eher aus buddhistischen Beschreibungen bekannt ist. Gewahrsein oder Bewusstsein werden nur als ein weiteres Objekt oder Phänomen angesehen. Alle Phänomene scheinen sich zu ereignen, ohne dass es dafür einen Zeugen braucht.
Vertieft sich dieser Faden noch weiter, wird der noch übrig gebliebene Pol – Subjekt oder Objekt – ebenfalls als ein weiteres Konzept gesehen. Wenn das geschieht beginnst du, die gesamte Realität als genau das zu erleben, was sie ist. Es gibt nur ein ewiges Jetztsein/Hiersein/Sosein/Präsenz, ohne zusätzliche Komplexität durch Konzepte wie Raum, Zeit, Subjekt, Objekt oder andere Überlagerungen. Es mag den Anschein haben, dass die Arbeit an diesem Punkt getan ist, aber selbst hier können wir noch die zentrale Leitfrage dieses Fadens anwenden. Was erscheint noch real, wirklich oder gegenwärtig? Entsteht Sosein tatsächlich überhaupt? Ist “Präsenz” tatsächlich gegenwärtig?
Hat der Prozess der Dekonstruktion/Nichtverdinglichung erst einmal diese Ebene der Detailgenauigkeit erreicht und genügend Dampf entwickelt, kommt es häufig vor, dass alle Phänomene buchstäblich ausblenden. Diese Blackouts (im Buddhismus oft “Aufhebung”/cessation genannt) sind ohne Gewahrsein wie Tiefschlaf oder Narkose. Viele sprechen davon, dass diese Momente wie ein “Reset” für das Gehirn sind. Fährt der Geist danach wieder hoch, wird offenbar, warum Verdinglichung überhaupt stattfindet. Eine der wichtigsten Funktionen der Aufhebung (cessation) ist für mich jedoch die endgültige Destabilisierung jeglicher Vorstellung eines “Hintergrunds”, eines “Seinsgrunds” oder einer “zugrunde liegenden Realität”. Das, was während einer Aufhebung (cessation) geschieht “Leere” zu nennen, selbst das ist eine Verdinglichung zu viel. Es ist ein völliges Fehlen von Erfahrung oder irgendetwas anderem.
Nähern wir uns dem unteren Ende des Fadens der Leerheit, wird die Nichtverdinglichung allgegenwärtig. Es scheint, als ob nichts jemals irgendwo entsteht, noch für jemanden entsteht. Das Nichtentstehen von Phänomenen ist unheimlich, als würde man in einer Fata Morgana leben, die jedes Mal aus der Existenz verschwindet, wenn man versucht, sie wahrzunehmen. Manchmal gibt es sensorische und sogar physische Störungen, während Körper und Geist herausfinden, wie sie in einer Welt leben und navigieren sollen, die nicht zu existieren scheint. Insbesondere wenn Menschen sehr schnell in einen solchen Zustand wechseln, kann es passieren, dass sie sich im Nihilismus verlieren und keine Motivation mehr finden, sich um Arbeit, Familie oder andere gewöhnliche Aufgaben zu kümmern. Selbst diese tiefe Leere wird jedoch mit der Zeit und dem richtigen Kontext zu einer neuen Normalität.
Das unterste Ende eines jeden Fadens führt zu den allumfassendsten Erkenntnissen des jeweiligen Fadens. Im Fall des Fadens der Leerheit kommt man an den Punkt der vollständigen Nichtexistenz, an dem man sagen kann, dass rein gar nichts mehr existiert. Selbst die Aussage “die Dinge sind leer” scheint zu sehr zu verdinglichen und suggeriert, dass es Dinge gibt, von denen man sagen kann, dass sie ein Attribut der Leere haben. Die einzige plausible Aussage über die Realität wäre die völlige Stille; alles andere würde einfach zu viel hinzufügen.
Es ist ein unvermeidliches Merkmal aller Fäden, dass sie, wenn du in sie eingetaucht bist, völlig überzeugend sind. Sie präsentieren ihre Perspektive als die ultimative Wahrheit, die höchste Form der Verwirklichung und dass dieser Faden der ganze Sinn des Erwachens ist. Es kommt auch häufig vor, dass der Geist alle möglichen Weltanschauungen und ontologischen Bezugssysteme erfindet, bei dem Versuch, diesen Ereignissen einen Sinn zu geben. Tief im Faden der Leerheit eingetaucht, könntest du zum Beispiel so etwas sagen wie: “Die ultimative Wahrheit ist, dass alle Dinge vollkommen leer, unauffindbar, nicht existent und nicht entstehend sind und es niemals anders sein könnte.
Wir stellen die Erkenntnisse eines Fadens, in den wir verstrickt sind, stets auf ein Podest. Sie scheinen immer unbestreitbar und offensichtlich wahr zu sein. Die Erkenntnis zu erlangen, dass alle Dinge leer sind, scheint der ganze Sinn des Erwachens zu sein. Doch wie wir auf den nächsten Seiten sehen werden, gibt es noch andere Fäden mit Lektionen, die sie uns lehren. Die ultimative Wahrheit der Leerheit ist weder die beste noch die einzige Perspektive.