Der Faden der Energie

Energie bezieht sich auf eine weitere Ansammlung spiritueller, mystischer oder religiöser Erfahrungen, die oft im Erwachensprozess auftreten. Diese Erfahrungen kommen wie beim Faden der Einheit häufig vor, sind aber nicht universell. Viele Menschen durchlaufen einen kompletten Erwachensprozess, ohne dass diese jemals mehr als Epiphänomene sind. Handelt es sich jedoch um einen richtigen Faden, wird es auch hier einen Entwicklungspfad hin zu einem Endpunkt geben, an dem diese Art von Erfahrungen die gesamte Existenz ausmachen.

Mit der Namensgebung dieses Fadens möchte ich all die verschiedenen spirituellen, mystischen und religiösen Erfahrungen ansprechen, die im Zusammenhang mit energetischen Phänomenen stehen. In den asiatischen Traditionen wird ausführlich über solche Phänomene gesprochen. Qi, Ki, Prana, Loong, Lom und andere “Winde” sind grundlegende Konzepte in der traditionellen asiatischen Medizin und in allen Arten von Kampfkünsten. Zu den spirituellen Systemen, die viel über Energie zu sagen haben, gehören die meisten traditionellen Formen des Yoga, der Daoismus, der Vajrayana-Buddhismus, der Kashmirische Shaivismus und andere tantrische Traditionen aus dem gesamten asiatischen Kontinent. Diese Systeme vertreten Ideale der energetischen Vollkommenheit wie den daoistischen Unsterblichen, den yogischen Lichtkörper oder den tibetisch-buddhistischen Regenbogenkörper. Heutzutage gibt es eine Vielzahl westlicher Formen der Energiearbeit, die diese traditionellen Ideen mit modernen Konzepten kombinieren. Welche Sprache Menschen verwenden, um über Energie zu sprechen, hängt von ihrem jeweiligen Hintergrund und Glaubenssystem ab und davon, mit welchen traditionellen Begriffen und Konzepten sie am meisten vertraut sind. Wir finden hier Begriffe, wie Meridiane, Dantiane, Chakren, Auren, Koshas, Kundalini, Lichtstrahlen, Astralbereiche, Quantenfelder, bioelektrische Felder usw. (Wie bei den vorherigen Fäden ist es auch hier gut möglich, dass jemand keinen Kontext hat, mit dem er diesen Faden erklären oder verstehen kann).

Öffnet sich dieser Faden, so kündigt er sich oft, wie die anderen Fäden auch, in Form einer bemerkenswerten, persönlichen Erfahrung an. Das heißt, Körperempfindungen, visuelle oder auditive Wahrnehmungen oder andere klare und greifbare Phänomene erwecken den Anschein, als würden sie “mir” geschehen. Dieser Faden kann sich aber auch zunächst als subtilere “Schwingungen” oder Gefühle manifestieren, die sich nur schwer einordnen oder benennen lassen. Einige typische Erfahrungen (auch hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit) können z.B. beinhalten:

  • Ich spürte, wie elektrische Funken meine Wirbelsäule hinaufliefen und oben aus meinem Kopf schossen.
  • Ich war am Ufer und lauschte den Wellen am Strand, als ich sie plötzlich in mir spürte, als ob sie die Unreinheiten in meinem Körper wegspülen würden.
  • Ich spürte ein brennendes Gefühl in der Mitte meiner Brust und dann explodierte es wie eine Supernova, die wie Sonnenstrahlen Licht nach außen verströmt.
  • Es fühlte sich an, als würde mein Körper schrumpfen, wachsen, sich ausdehnen, sich zusammenziehen, verschwinden oder sich in einem Feld von Empfindungen auflösen.
  • Meine Sinne verpixelten sich allmählich zu winzigen, pulsierenden Lichtflecken, die wie Glühwürmchen oder Champagnerblasen umherschwirrten.

Das Auftreten solcher Phänomene kann plötzlich und überraschend sein. Vor allem, wenn jemand keinen Kontext für das Geschehen hat, können sie manchmal zutiefst beunruhigend oder sogar überwältigend sein. Energieschwankungen werden häufig als körperliche oder geistige Beschwerden erlebt und so kann das Öffnen dieses Fadens im Erwachensprozess eine ganze Reihe gesundheitlicher Probleme aufwerfen. (Der Begriff Kundalini-Syndrom ist eine der bekanntesten Arten, über intensivere oder problematische Energiephänomene zu sprechen). Kämpft der Geist darum, dem Geschehen einen Sinn zu geben, entstehen wie bei allen Fäden oft starke ontologische Ansichten. Manchmal schaffen diese Ontologien selbst weitere Probleme, da sich die Vorstellungen darüber, “was ist” oder “was sein sollte”, um die eigenen Ansichten und Annahmen herum kristallisieren.

Sind diese Art von Erfahrungen epiphänomenal, dann können sie zwar im Laufe des Erwachensprozesses sporadisch auftreten, aber sie werden sich nicht zu einem Entwicklungspfad entfalten. Nur weil dein Körper beim Meditieren prickelt, heißt das zum Beispiel nicht, dass es einen Faden der Energie gibt. Ist dies ein richtiger Faden, dann werden energetische Phänomene immer mehr in den Mittelpunkt deines Erwachensprozesses rücken und schließlich zum gesamten Universum werden. Auch diese Entfaltung kann geradlinig, in Schüben oder auf chaotische Weise erfolgen. Im Großen und Ganzen wirst du aber auf lange Sicht eine Vertiefung erfahren. Deine Grundlinie wird sich verschieben, da der Faden ein immer grundlegenderes Merkmal deiner täglichen Erfahrung wird.

Wie bei den anderen Fäden gibt es eine Erforschung, die dich immer tiefer hineinführen kann. Die zentrale Frage lautet hier:

Auch bei dieser Frage gibt es unendlich viele Varianten, die jeder für sich selbst herausfinden kann. Der wichtigste Punkt ist, jeden Aspekt der Realität, der fest erscheint zu untersuchen und zu hinterfragen, ob er es tatsächlich ist.

Reflektierst du immer wieder über diese Frage, wird sich alles, was vorher fest zu sein schien, schließlich in Energie auflösen. Bei der Körperenergie zum Beispiel mag es zunächst so aussehen, als würde die Energie in deinem Körper fließen. Schließlich verliert aber auch der Körper seine Grenzen und wird zu einem Feld fließender energetischer Empfindungen. Nach und nach folgen auch deine anderen Sinne diesem Beispiel. Dein Sehen zerfällt in Millionen von winzigen Pixeln, wie das Flimmern eines alten Fernsehgeräts. Dein Gehör ebenso: Jedes Geräusch zischt und knistert wie ein statisch aufgeladenes Radio. Vertiefst du dich in diesen Faden, scheint sich die gesamte Realität synästhetisch in Schwingungen aufzulösen. Du erkennst, dass nichts im Universum statisch ist; alles, was du einst für stabil gehalten hast, wird wie ein Haufen flackernder Pixel in einem dynamischen Tanz wahrgenommen.

Wie bei allen anderen Fäden, wird auch die Richtung dieser Erforschung schließlich nondual. Das passiert, wenn du wahrnimmst, dass es ein subtiles Selbstgefühl gibt, eine Art “Du”, das die entstehenden energetischen Phänomene erlebt, bezeugt oder wahrnimmt. Es ist, als ob es einen stabilen Beobachter gibt, der sieht und fühlt, während die energetischen Fluktuationen gesehen oder gefühlt werden. Mit anderen Worten: Bewusstsein oder Gewahrsein sind immer noch vom Energiefeld getrennt und scheinbar statisch. Lässt du dich hinein sinken und fragst, ob das tatsächlich so ist, wird sich vermutlich auch diese Barriere auflösen.

Du wirst plötzlich oder allmählich erkennen, dass es so etwas wie ein stabiles Bewusstsein nicht gibt. Gewahrsein selbst ist genauso pixelig, flimmernd und fluktuierend wie alles, was es wahrnimmt. Jeder einzelne Bewusstseinsmoment ist wie ein einzelnes Pixel, das auftaucht, eine Nanosekunde lang anhält und dann wieder verschwindet. Die gesamte Realität ist in jeder Nanosekunde ein kreativer, dynamischer, schwingender Ausbruch von Geburt und Tod. Und zwischen den kurzen Leuchtimpulsen gibt es außerdem keinerlei Kontinuität. Der gesamte Kosmos entsteht und zerfällt jeden Augenblick wieder ins Nichts. Nichts, was auch immer, kann dauerhaft, fest oder statisch sein.

Am unteren Ende des Fadens wird deutlich, dass zu behaupten, der Kosmos würde überhaupt entstehen, bereits zu viel gesagt ist. Zu behaupten, dass irgendeines dieser winzigen Pixel entsteht, würde ihm eine Art Festigkeit oder statische Qualität verleihen, selbst wenn diese nur für eine Nanosekunde lang bestünde. Wendest du die zentrale Leitfrage auf dieser mikroskopischen Ebene an, siehst du, dass das, was vorher wie kleine Pixel aussah, in Wirklichkeit eher Blasen sind, die zerplatzen, wenn du versuchst, sie zu fassen. Da jedes Phänomen eine eigene winzige Blase ist und auch Bewusstsein eine eigene kleine Blase ist, kannst du dir nie wirklich etwas gewahr werden. Alles, was du zu lokalisieren versuchst, ist weg, bevor du es überhaupt erfassen kannst.

An diesem Punkt erscheint Realität nicht mehr als ein Feld winziger schwirrender Teilchen, sondern eher als eine Energie, die sich nie in irgendein Objekt zerlegt und auch nie erfolgreich wahrgenommen werden kann. Der gesamte Kosmos wird als unmanifestiertes Potenzial gesehen. Auch diese Erkenntnis kann zu allen möglichen Bedeutungen und ontologischen Spekulationen führen – von Shiva-Shakti bis zur Quantenphysik und allem dazwischen. Was auch immer du daraus machst, aus der Perspektive dieses Fadens ist die Erkenntnis, dass das gesamte Universum ein kreativer Tanz der Energie ist, die ultimative Wahrheit. Sie ist die Definition des Erwachens schlechthin.