Der Faden der Einheit
In vielen spirituellen Gemeinschaften hat der Faden der Leerheit einen hohen Stellenwert. Die Wahrnehmung der illusorischen Natur des Selbst und der Phänomene wird besonders in den asiatischen Traditionen oft als unabdingbare Voraussetzung für das Erwachen angesehen. Sie sind mit anderen Worten der Meinung, dass man per Definition nicht erwacht ist, wenn man nicht bis zum Ende des Fadens der Leerheit vorgedrungen ist. Die meisten spirituell Suchenden im modernen Westen verwenden das Wort “Erwachen” jedoch anders. Es bezieht sich in der Regel auf ein breites Spektrum spiritueller Erfahrungen, die tiefe Einsichten über das Selbst und die Welt offenbaren und zu einer dauerhaften Veränderung der Identität oder des Lebenszwecks führen.
Verwenden wir diese breitere Definition von Erwachen, so kann ich sagen, dass meiner Erfahrung nach die große Mehrheit der Menschen, die einen Erwachensprozess durchlaufen, eine Reihe von Phänomenen und Einsichten erleben, die sich nicht nur auf Leerheit beschränken. Der erste Faden mag zwar ein obligatorischer Bestandteil des Erwachens sein, aber er ist nicht der einzige und manchmal nicht einmal der wichtigste oder bedeutendste. Es gibt andere Arten von Erfahrungen, die für viele Menschen genauso wichtig sein können.
Der Faden der Einheit ist ein gutes Beispiel dafür. Dieser Faden ist einer der häufigsten, den Menschen erfahren. Er ist jedoch nicht universell: Es ist durchaus möglich, den gesamten Erwachensprozess zu durchlaufen, ohne dass der Faden der Einheit jemals sehr aktiv ist. Es ist auch durchaus möglich, Epiphänomene dieser Art zu erleben, die aber nicht zu einem Faden werden, weil sie keinen Entwicklungspfad haben. Taucht Einheit jedoch als ein richtiger Faden auf, gibt es einen Entwicklungspfad der zu einem Endpunkt führt. Dieser Faden wird dann zur gesamten Existenz, genau wie im vorherigen Kapitel.
Du kannst dir diesen Faden so vorstellen, dass er die ganze Bandbreite spiritueller, mystischer und religiöser Erfahrungen in Bezug auf Intimität, Verbindung und Einheit umfasst. Dazu gehören Gefühle der Liebe, wie geliebt zu werden, gehalten zu werden, beschützt zu werden, unterstützt zu werden, umsorgt zu werden und auch Gefühle, wie anderen Liebe, Schutz und Unterstützung zukommen zu lassen. Andere beschreiben ihre Erfahrung eher mit dem Gefühl, mit dem Göttlichen, Heiligen, Mysterium, der Güte oder Heilung verbunden zu sein; oder mit einem Gott, einer Göttin, mit Engelswesen; oder mit einem wohlwollenden Universum oder einer kosmischen Intelligenz; oder mit dem höchsten vorstellbaren Gut; oder mit der Gesamtheit des Kosmos verbunden zu sein. Wie bei allen anderen Fäden auch, werden viele Menschen diese Erfahrungen nicht erklären oder in Worte fassen können.
Die spezifische Sprache, die Menschen verwenden, um über diesen Faden und seine Auswirkungen zu sprechen, hängt von ihrem Hintergrund, ihrem Glauben und ihrer Praxisgemeinschaft ab. Dieser Faden wird unter anderem in der christlichen Mystik, im Sufismus, im Mahayana-Buddhismus, im auf Hingabe basierenden Hinduismus und in den Göttinnen-Traditionen auf der ganzen Welt groß geschrieben. In jeder dieser Traditionen gibt es verschiedene Ideale oder Vorbilder, wie den Mystiker, den Bodhisattva und den Bhakta oder Hindu-Heiligen. Spricht ein Mensch von diesem Faden, könnte er von Gott, der Göttin, dem Christus-Bewusstsein, von Kuan Yin, dem Buddha oder einer beliebigen Anzahl anderer Gottheiten oder höheren Wesen sprechen. Oder er könnte eher weltliche Begriffe verwenden, wie die vernetzte Natur des Universums, die evolutionäre Qualität des Kosmos oder die Noosphäre, die die gesamte Menschheit umfasst. Natürlich kann sich der Faden auch spontan für Menschen ohne religiösen oder spirituellen Kontext öffnen und sie könnten dann eine ganz andere Sprache verwenden.
Wir könnten das, was wir sagen und wie wir es verstehen, ändern, wenn wir uns hinein vertiefen. Wie auch immer wir es nennen, öffnet sich dieser Faden erstmals, kommt er oft in Form einer klaren, offensichtlichen, greifbaren Erfahrung. Dabei kann es sich um starke emotionale Zustände wie universelles Mitgefühl, mütterliche Liebe oder göttliche Gegenwart handeln. Oder um deutliche Körperempfindungen wie Glückseligkeit, Wärme oder Zärtlichkeit. Oder um eine visuelle oder auditive Erfahrung wie bspw. eine Vision zu haben oder die Stimme von Jesus oder Ramana Maharshi zu hören, die dich ruft. Oder eine eher nebulöse Intimität, die du nicht genau benennen kannst, die aber dennoch unbestreitbar ist.
Es ist auch möglich, dass die mit diesem Faden verbundenen Erfahrungen subtiler sind als all das. Jemand könnte zum Beispiel ein diffuses und allgemeines Gefühl der Verbundenheit, Intimität oder Einheit mit allen Dingen empfinden. Oder vielleicht ein stilles Empfinden, dass alles heilig oder gütig ist. Statt einer überschwänglichen Vision der Jungfrau Maria, die Liebe ausstrahlt, hast du vielleicht nur das leise Gefühl, dass ihre göttliche Präsenz immer im Hintergrund ist.
Wie bei allen Fäden, kann die anfängliche Öffnung in die Einheit überraschend und aus heiterem Himmel kommen. Sie kann auch schrittweise erfolgen und sich daher weniger dramatisch anfühlen. In jedem Fall wird die Öffnung des Fadens in der Regel als ein persönliches Ereignis erlebt. Damit meine ich, dass die Erfahrung – was auch immer es ist – etwas ist, das “mir” passiert. Häufige Formulierungen für diese Art von Erfahrung können sein:
- Ich spürte die Anwesenheit eines liebevollen Engels neben mir und wusste, dass alles in Ordnung sein würde, egal was passiert.
- Ich sah das Universum als ein Feld der Liebe und zum ersten Mal verstand ich, warum ich auf die Erde gebracht wurde.
- Ich spürte, wie ein gewaltiger Schwall von Mitgefühl in meiner Brust aufstieg und dann brach es aus mir heraus wie ein Ozean der Fürsorge, der zu allen Wesen fließt.
- Ich fühlte mich klein und unbedeutend in der Gegenwart eines unaussprechlich heiligen und mächtigen Bewusstseins.
Viele Menschen, die eine starke mystische, spirituelle oder religiöse Erfahrung machen, entwickeln später eine ontologische Sichtweise darüber, was das bedeutet. Nach dem Öffnen des Fadens der Einheit kann es sein, dass der Glaube an Gott bestätigt wird oder dass der frühere Agnostizismus einem neu gefundenen Glauben weicht. All das sind natürliche Reaktionen, während der Geist versucht, sich mit diesen neuen Daten auseinanderzusetzen und zu verstehen, wie sie in die eigene Weltanschauung oder Gedankenwelt passen.
Ist die Erfahrung von Herz/Liebe/Göttlichkeit ein echter Faden und nicht nur ein Epiphänomen, wird sich dein Leben mit der Zeit im Lichte des Entdeckten verändern. Der Faden wird sich vertiefen. Die Grundlage deiner Erfahrung des Fadens wird sich von eher lokalisiert oder spezifisch zu immer allgemeiner und universeller bewegen. Zu den Praktiken, um diesen Faden zu vertiefen, gehören traditionelle, strukturierte Techniken wie Meditation, Gebet, Mantren, Chanten, Visualisierung und so weiter. Gängige Beispiele aus asiatischen Traditionen, die ich in A Lamp Unto Yourself bespreche, sind Metta Bhavana, Tonglen, Guru Yoga, Opferrituale und die Praxis der Hingabe. Es gibt noch viele andere Beispiele aus westlichen Traditionen, mit denen ich persönlich weniger vertraut bin, die aber sicher genauso wirksam sein können. Natürlich kannst du auch weniger formale Methoden anwenden, wie z.B. einfach in ein Gefühl von Liebe oder Wärme zu versinken und dieses Gefühl zu genießen. Solche Erfahrungen können auch spontan auftreten, ohne dass du sie vorher geübt oder vorbereitet hast.
Auch hier ist ein effektiver Weg, das Vertiefen dieses Fadens zu beschleunigen, sich auf eine Version seiner zentralen Leitfrage zu konzentrieren. Für mich wäre das so etwas wie:
Was scheint immer noch von dieser Liebe/GOEttlichkeit/Einheit, die ich erlebe, getrennt zu sein – und ist das tatsAEchlich so?
Du könntest diese Untersuchung auf bestimmte Objekte anwenden und direkt einschätzen, ob sie in der Liebe oder Göttlichkeit enthalten sind oder nicht. Wenn es zum Beispiel einfach ist, höchstes Mitgefühl für geliebte Menschen oder sogar für “alle Wesen” zu empfinden, wie sieht es dann mit einem bestimmten Feind aus? Wie mit einem Missbrauchstäter? Wie mit deinem verletzten inneren Kind oder deiner tiefsten Angst? Was auch immer es ist: Findest du etwas, das nicht zum Feld der Liebe, Göttlichkeit oder Heiligkeit gehört, setze deine verwendeten Praktiken ein und prüfe, ob es wirklich stimmt, dass dieses Objekt dem Feld entgegensteht oder getrennt davon ist.
Vertieft sich dieser Faden mit der Zeit, wird mehr und mehr von der Realität durchdrungen sein von, eingebettet sein in oder gleichbedeutend sein mit Liebe, Göttlichkeit, Heiligkeit oder Gott. Es könnte die Erkenntnis auftauchen, dass alles geplant oder vorherbestimmt ist oder sich auf eine Weise manifestiert, die absolut perfekt ist. Vielleicht entdeckst du eine Art Widerstandslosigkeit, die dich auf die wohlwollende Natur des Universums vertrauen und das Bedürfnis aufgeben lässt, Realität zu kontrollieren oder zu hinterfragen.
An einem bestimmten Punkt wird auch dieser Faden schließlich nondual, d.h. er überwindet die Trennung von Subjekt/Objekt oder Selbst/Welt oder Bewusstsein/Phänomene. Das geschieht, wenn du ein subtiles Selbstgefühl wahrnimmst, eine Art “Du”, das die entstehende Liebe oder Göttlichkeit, erlebt oder bezeugt oder sich ihrer bewusst ist. Es ist, als ob du hier wärst und die Liebe oder Göttlichkeit dort drüben siehst oder fühlst. Es ist, als ob du eine Art Beobachter, Bewusstsein oder Gewahrsein wärst, das immer noch von diesem Feld getrennt ist. Fragst du dich, ob das tatsächlich so ist, wird sich vermutlich auch diese letzte Barriere auflösen. Du wirst plötzlich oder allmählich erkennen, dass es absolut nichts im Universum gibt, das von der Liebe/Göttlichkeit getrennt ist, einschließlich dessen, was du möglicherweise als dich selbst bezeichnen könntest. Mit anderen Worten: Alles, was du als “dich” bezeichnet hast, löst sich in der Liebe auf. Du bist das Göttliche. Du bist Gott. Du bist die Göttin.
Ganz am Ende des Fadens wird selbst die Identifikation “Ich bin” als Trennung gesehen. Zu sagen “Ich bin die Liebe” ist schon zu viel, denn das setzt zwei Dinge voraus, nämlich mich und die Liebe, die einfach nicht voneinander zu trennen sind. Die Identifikation fällt weg, die dem “Ich bin” im Satz innewohnt und das “Ich” ergibt sich völlig. Es löst sich auf in die Gesamtheit und hinterlässt nur noch Liebe, nur Göttlichkeit, nur Gott, nur Göttin. Es gibt nichts Getrenntes, nichts, was bei dieser vollständigen Vereinigung außen vor gelassen wird.
Aus der Perspektive dieses Fadens ist der gewaltige Wert dieser Erkenntnis offensichtlich. Es gibt keine höhere Wahrheit als die Erkenntnis, dass nichts im gesamten Universum getrennt ist und dass alles eine Liebe/Göttlichkeit ist. Das ganze Ziel der Spiritualität ist es, alle Wesen aus dem Leiden der Trennung in diese liebende Ganzheit zu entlassen.