FAEden des Erwachens
Eine multidimensionale Karte der spirituellen Reise
Von Pierce Salguero | Übersetzt von Sabina Witzel und Yvonne Unger

Loslassen

Die meisten spirituellen Traditionen wählen einen bestimmten Punkt im Prozess des Vertiefens, Flechtens und Integrierens als ihre Definition von Erleuchtung und damit als Ziel oder Endpunkt des Erwachens. Einige Traditionen, die auf Meditation oder Selbsterforschung basieren, identifizieren beispielsweise das Ende des Fadens der Leerheit (d.h. die völlige Entleerung der Erfahrung) als ihr Kriterium für Erleuchtung. Einige deistische Traditionen sehen das äußerste Ende des Fadens der Einheit (d.h. die vollständige Verschmelzung mit Gott) als ihr Ziel an. Traditionen, die mehrere Fäden gleich werten, neigen dazu, die vollständige Integration der Fäden als höchste Errungenschaft anzusehen. Traditionen, die sich an Laien richten, beziehen in der Regel auch den Faden des täglichen Lebens mit ein, während diejenigen, die sich an Einsiedler und Mönche richten, dies üblicherweise nicht ausdrücklich tun (oder ihn sogar abwerten). Manche Lehren legen den Schwerpunkt auf die Stabilisierung von Einsichten und betonen, dass man nur dann erleuchtet ist, wenn ein bestimmter Bewusstseinszustand zu 100 % der Zeit vorhanden ist, vielleicht sogar im Schlaf.

Die meisten spirituellen Traditionen definieren Erleuchtung als Stabilisierung des Endpunkts, den sie als Ziel definiert haben. In diesem Modell ist die Stabilisierung jedoch nicht das Ende der Geschichte. Viele Menschen stabilisieren sich tatsächlich in einem hoch integrierten “erleuchteten” Zustand, manchmal über Jahre oder sogar Jahrzehnte. Es gibt jedoch einen weiteren Prozess, der für einige stattfinden kann. Diesen kann man als “Nach-Erleuchtungsprozess” bezeichnen, in dem Sinne, dass selbst die höchsten, verfeinersten und spirituellsten Erkenntnisse und Errungenschaften zusammenbrechen oder wegfallen. Ich glaube nicht, dass es übertrieben ist zu sagen, dass bei diesem Prozess auch die letzte Spur von dem, was du einmal Erwachen oder Erleuchtung genannt hast, schwindet und schließlich ganz verschwindet.

Ich nenne diesen Prozess “Loslassen”. Wie auch in den anderen Kapiteln, gibt es verschiedene Komponenten des Loslassens. Verschiedene Menschen werden vielleicht feststellen, dass sich Aspekte davon in einer anderen Reihenfolge zeigen, als ich es hier geschrieben habe. Wie immer, zeigen sich die Dinge von Mensch zu Mensch außerordentlich unterschiedlich. Dieses Kapitel ist nur ein Hinweis, der einige allgemeine Aspekte zusammenfasst. Zusammenfassend könnte man sagen, dass ein Faden dann losgelassen wird, wenn seine Perspektive so vollständig integriert ist, dass es überflüssig ist, ihn als separates Ding, als Prozess oder als Merkmal der Realität zu betrachten. Da dem Faden keine besondere Aufmerksamkeit mehr geschenkt wird, ist er auch kein wichtiger Faktor mehr in der eigenen Erfahrung. Wird er vollständig losgelassen, verschwindet er ganz und gar und man vergisst vielleicht sogar, wie es war, ihm überhaupt eine Bedeutung beizumessen.

Um deutlicher zu machen, wovon ich spreche, gehen wir die Fäden der Reihe nach durch und beginnen mit der Leerheit. Die Erkenntnisse, die wir aus diesem Faden gewonnen haben, drehen sich alle um die Dekonstruktion der Beziehung zwischen dem Subjekt (d.h. Gewahrsein, Bewusstsein, Präsenz usw.) und den Objekten der Wahrnehmung (d.h. Konzepte, Gedanken, Sinnesphänomene usw.). Das Loslassen dieses Fadens erfolgt, wenn die Dekonstruktion der letzten, subtilsten Schicht der Subjekt-Objekt-Dualität endgültig integriert ist. Dies zeichnet sich dadurch aus, dass man sich nicht mehr um das Verstehen kümmert, nicht mehr daran interessiert ist, die Dualität von Subjekt und Objekt zu erforschen und auch nicht mehr in der Lage ist, sie zu lokalisieren. Der Wunsch oder die Fähigkeit ist verschwunden, das, was in der Erfahrung auftaucht zu beobachten, zu untersuchen oder gar zu wissen. Wenn man aufhört, der Abgrenzung von Subjekt-Objekt Aufmerksamkeit zu schenken – die einst so wichtig für den Erwachensprozess war – vergisst man schließlich, wie es war, sie überhaupt für bedeutsam zu halten.

Bevor wir uns den anderen Fäden zuwenden, soll noch einmal betont werden, dass das Loslassen der Fäden kein einmaliges Ereignis ist, das zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet und dann für immer abgeschlossen ist. Es ist ein Prozess, der sich, wie die anderen in diesem Buch besprochenen Prozesse, im Laufe der Zeit entfaltet. Man kann alle Fäden auf ein Mal loslassen, einen Faden nach dem anderen, oder Stück für Stück, eher zufällig. Es kann sich anfühlen, als würde man das Loslassen absichtlich tun oder als würde es spontan geschehen. Der Prozess des Loslassens kann bei bestimmten Fäden beginnen, während andere noch nicht vollständig integriert sind. Es kann allmählich oder plötzlich geschehen. Das Loslassen kann partiell oder allumfassend sein. Es kann eine Phase geben, in der du bestimmte Fäden verdrängst oder ablehnst. Es kann sein, dass man sich über bestimmte Fäden ärgert oder sich mit ihnen langweilt. Man hat vielleicht das Gefühl, dass sie zu früh weggenommen wurden oder man vermisst sie sehr. Für manche Menschen kann sich das Loslassen der Fäden wie ein Rückfall anfühlen, ein Herausfallen aus der Erleuchtung und eine Rückkehr zu einer ganz gewöhnlichen Lebensweise, so wie vor dem Erwachen. Es kann ein großes Feuerwerk geben, schiere Panik, einen kleinen Seufzer der Erleichterung oder man bemerkt diesen Prozess überhaupt nicht.

Wie auch immer der Prozess des Loslassens abläuft, er wird zweifellos komplex sein. Es kann vorkommen, dass man glaubt, einen Faden losgelassen oder sogar ganz vergessen zu haben, um ihn dann Monate oder Jahre später wieder aufzugreifen. Um ein Beispiel zu geben, das mit dem Faden der Leerheit zu tun hat: Man könnte eine lange Zeit damit verbringen, ohne sich darum zu kümmern oder zu bemerken, ob man überhaupt bewusst oder gewahr ist. Plötzlich taucht dann das alte Gefühl wieder auf, die Erfahrung zu beobachten. Es kann sein, dass man sich plötzlich wieder präsent fühlt oder dass man plötzlich bemerkt, dass man “erwacht” ist. Das scheint völlig normal zu sein.

Selbst während dieses Gewahrsein, diese Präsenz, dieses Bewusstsein oder der subtile Zeuge sozusagen offline war, hat der Körper scheinbar immer noch Dinge getan: mit Menschen gesprochen, Gedanken gedacht, Worte benutzt, Empfindungen gespürt und alle möglichen anderen Aktivitäten ausgeführt. Aber diese Dinge geschehen einfach, ohne dass Widerstand, Analyse oder irgendeine besondere Art von Aufmerksamkeit darüber liegen. Es ist wie der Flow-Zustand eines Sportlers oder Musikers, der auf höchstem Niveau arbeitet oder als ob alles auf Autopilot läuft. Wenn wir für einen Moment bei der letztgenannten Metapher bleiben, könnten wir fragen, wer das Flugzeug fliegt, wenn niemand da ist, der die Kontrollen im Cockpit überwacht? Was ich in dieser Metapher als “Autopilot” bezeichne, ist einfach die Summe der konditionierten Verhaltensweisen, Reaktionen und Gewohnheiten der unbewussten Schichten der Psyche, die automatisch im Hintergrund ablaufen, ohne dass sie bewusst überwacht werden müssen.

Bist du am Ende des Fadens des Unbewussten angekommen, hast du bereits erkannt und dich der Erkenntnis hingegeben, dass einhundert Prozent dessen, was du denkst, glaubst, fühlst, tust, sagst und erlebst, ein Produkt dieser unbewussten Prozesse und Projektionen ist. Wird der Faden des Unbewussten losgelassen, stellt sich die Frage nicht mehr, ob du das unbewusste Material akzeptieren, zulassen oder willkommen heißen musst, damit es zum Vorschein kommt. Es gibt weder die Fähigkeit noch den Wunsch, dem gegenüber eine Haltung einzunehmen. Alles ist einfach da und läuft selbstständig ab, ohne dass das Ego oder das Selbst es verwalten, kontrollieren, unterdrücken, willkommen heißen, sich ihm hingeben oder auf andere Weise mit ihm in Beziehung treten muss.

Das bedeutet aber nicht, dass die Konditionierung nicht spontan angepasst werden kann. Nichts ist in Stein gemeißelt. Im Gegenteil: Neue Fähigkeiten können immer noch erlernt und schlechte Gewohnheiten scheinbar müheloser umprogrammiert werden. Der physische Körper scheint an diesem Punkt oft im Mittelpunkt zu stehen. Alle möglichen psychosomatischen Beschwerden können auftauchen. EMDR, somatische Arbeit oder andere therapeutische Methoden zur Behandlung zugrunde liegender psychischer Wunden oder Traumata können erfolgreich eingesetzt werden. Da Subjektivität und Relationalität jedoch verschwunden sind, scheint all dies keine Auswirkungen auf das eigene Wachstum, die spirituelle Entwicklung oder andere Projekte der Selbstverbesserung zu haben. Die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen kann auftauchen, aber sie fließen frei, ohne zu verweilen oder eine langfristige Wirkung oder Bedeutung zu haben. Es gibt keine ausgeklügelten Strategien mehr, um das, was auftaucht, entweder zu vermeiden oder sich darauf einzustellen. Die Dekonditionierung ist wie ein spontaner Reflex, so als ob der Autopilot eines Flugzeugs die Steuerung automatisch anpasst, um auf Turbulenzen zu reagieren, während der Pilot am Steuer schläft.

Nachdem wir uns mit dem Loslassen des Fadens der Leerheit und des Fadens des Unbewussten befasst haben, wollen wir nun den Faden der Einheit einbeziehen. Das Loslassen dieses Fadens bedeutet, dass alle Erfahrungen von Gott, Göttlichkeit, Heiligkeit, Liebe, Mitgefühl, Fülle, Schönheit, Ganzheit, Intimität und so weiter als überflüssige Überlagerungen angesehen werden. Da sie nicht mehr notwendig sind, verlieren sie ihre Anziehungskraft. Die Ideen selbst machen nicht einmal mehr wirklich Sinn. Die ganze Bandbreite an Zuständen und Erkenntnissen, die mit diesem Faden in Verbindung gebracht werden – ganz gleich, wie zentral sie in der Vergangenheit für den Erwachensprozess gewesen sein mögen – verlieren an Bedeutung und Sinn.

Verschwinden diese mit dem Faden der Einheit verbundenen Phänomene, kann bei manchen Menschen anfangs eine gewisse Trauer, ein Festhalten oder eine Sehnsucht nach den guten alten Zeiten der Verbundenheit und Intimität entstehen. Je mehr dieser Faden jedoch loslässt, desto weniger ist es wünschenswert oder überhaupt möglich, sich einer dieser Erfahrungen zuzuwenden, in sie zu versinken oder sie überhaupt noch zu finden. Selbst die grundlegendste Anweisung, wie “Richte deine Aufmerksamkeit auf die Liebe”, scheint keinen Sinn zu ergeben. Dazu müsste man etwas finden, das man “Aufmerksamkeit” nennt und das von etwas, das man “Liebe” nennt, getrennt ist und dann die Aufmerksamkeit irgendwie auf die Liebe lenken. Das ist einfach zu viel Arbeit, um sich damit zu beschäftigen. (Welch köstliche Ironie, dass immer ein gewisses Maß an Trennung nötig war, um Zustände der Einheit zu erfahren!)

Das Gleiche gilt auch für den Faden der Energie. Der feinstoffliche Körper und die energetischen Schwingungen, die früher für den Erwachensprozess so wichtig waren, werden jetzt nicht mehr gesucht oder mit einer besonderen Bedeutung versehen. Um diese Zustände überhaupt finden zu können, müsste man das Bewusstsein irgendwie von der Energie trennen, damit das eine das andere suchen kann. So wichtig dieser Faden im Erwachensprozess auch gewesen sein mag, man sieht jetzt, dass all diese Zustände immer überflüssige Konstruktionen waren, die durch die Trennung entstanden sind. Auch sie können jetzt einfach losgelassen werden.

Der Grund dafür, dass Liebe und Energie als getrennte Phänomene nicht mehr besonders wichtig oder bedeutungsvoll sind, liegt natürlich darin, dass beide, wie auch die beiden anderen oben erwähnten Fäden, vollständig in das System integriert wurden. Als Ergebnis all der vorangegangenen Arbeit, die diese Fäden im Laufe des Erwachensprozesses geöffnet, vertieft, geflochten und integriert hat, sind ihre Einsichten, Lektionen oder Perspektiven jetzt einfach zu eingebauten Funktionen des Autopiloten geworden. Das heißt, diese Ausrichtungen scheinen einfach zu entstehen, wenn sie gebraucht werden und zwar auf natürliche, automatische und unvorhergesehene Weise, ohne dass dafür Bewusstsein oder Gewahrsein erforderlich wäre. Mitgefühl und Hilfsbereitschaft für Menschen in Not entstehen einfach. Ein Energieschub für ein Projekt erscheint einfach. Energetische Verbindungen oder Übertragungen zwischen Menschen geschehen einfach. Aber all das geschieht auf Autopilot – das heißt, alles ist ohne Absicht, alles ist völlig unbewusst konditioniert und alles läuft autonom ab, ohne dass man es beobachten, sehen, überwachen oder darauf reagieren muss. (Natürlich werden alle Fäden, die nicht Teil des Erwachensprozesses waren oder sich nicht vollständig integriert haben, nicht auf diese Weise dem Autopiloten inhärent sein).

Schließlich gibt es neben den vier spirituellen Fäden, auch noch das Loslassen des Fadens des täglichen Lebens. Das bedeutet nicht, dass man sich völlig aus der Gesellschaft zurückzieht und irgendwo in einer Höhle lebt. Im Gegenteil, es bedeutet, dass das Interesse, das Bedürfnis oder die Fähigkeit verschwindet, den alltäglichen Aspekten des Lebens einen Sinn oder eine Bedeutung zu geben. Jede tief verwurzelte Vorstellung davon, was ein sinnstiftendes Leben ist, verschwindet einfach. Der Wille, das Leben zu kontrollieren, zu managen oder in die eine oder andere Richtung zu lenken, ist einfach nicht vorhanden. Die Welt muss sich nicht verändern oder anders erlebt werden, als sie ist.

Hört man auf, Realität auf diese Weise bis ins Kleinste zu steuern, gibt es für das Ego-Selbst buchstäblich keine Aufgabe mehr. So bleibt es auf der Strecke, wird überflüssig und gerät in Vergessenheit. Das bedeutet nicht, dass man nicht an normalen Aktivitäten teilnehmen kann, z. B. zur Arbeit gehen, sich um die Gesundheit kümmern, Rechnungen verwalten, auf die Kinder aufpassen, Urlaube oder Karriereziele planen oder sogar sein öffentliches Image in den sozialen Medien pflegen. Man kann sogar ein äußerst effektiver und effizienter Angestellter, Student, sozialer Aktivist, Chef, Geschäftsmann oder etwas anderes werden. Die Funktionalität ist in keinem dieser Bereiche beeinträchtigt, sie laufen jetzt nur alle auf Autopilot, ohne große Bedeutung, Sinnhaftigkeit oder Emotionen und ohne, dass man sie überwachen oder kontrollieren muss.

Was fällt noch weg, wenn du diese fünf Fäden loslässt? Nun, falls es nicht schon vorher geschehen ist, beinhaltet dieser Prozess auch das Loslassen aller ontologischen Überzeugungen. Während man früher vielleicht an bestimmten Wahrheiten über die Natur des Universums festgehalten hat – über die Leerheit der Dinge, die Existenz Gottes, die Realität der Wiedergeburt, die Vorrangstellung der materiellen Realität oder des Bewusstseins oder der Quantenfelder oder was auch immer – wird es immer unmöglicher, all diese Aussagen tatsächlich zu glauben. Damit eine dieser Aussagen wahr ist, muss man eine bestimmte Position zur Realität einnehmen. Während man früher in der Lage war, solche Perspektiven einzunehmen – eine nach der anderen während des Flechtens und dann alle gleichzeitig während der Integration -, so kann man jetzt keine feste Grundlage mehr dafür finden. Jedes Wort weist auf nichts Bestimmtes hin, jedes Konzept ist nur ein Konstrukt. Einen Standpunkt oder eine Perspektive zu irgendetwas einzunehmen, bedeutet lediglich, eine weitere Dualität zu schaffen. Man mag einen solchen Standpunkt vorläufig für den einen oder anderen praktischen Zweck einnehmen – aber als tief verwurzelte Philosophie, die man mit Bedeutung ausstattet und verteidigen muss? Wer hätte Lust auf sowas? Und wie könntest du dich überhaupt auf diese Weise abspalten, selbst wenn du es wolltest?

Die Fäden vollständig loszulassen bedeutet auch, die Identifikation mit irgendeinem der Fäden loszulassen. Am Anfang, vor dem Erwachen, gab es eine Identifikation mit einem narrativen Selbst. Während des Erwachensprozesses entstand eine Art von Selbst auf Metaebene, welches diese Identifikation durch eine viel größere ersetzte. Doch während es früher vielleicht wichtig war, sich als Gewahrsein, Bewusstsein, Nichts, Gott, Brahman, Energie, Licht, Seele, Geist, Mensch, spirituelles Wesen, spiritueller Lehrer oder eine Million anderer Möglichkeiten zu identifizieren, können solche Vergleiche jetzt einfach nicht mehr gelten. Um sich mit etwas zu identifizieren – das Gefühl zu haben, “Ich bin das” – müsste sich ein subtiler Teil vom Ganzen abspalten, damit er sich umdrehen und wieder mit dem Ganzen gleichsetzen kann. Wenn man kein Interesse daran hat oder nicht in der Lage ist, sich auf diese Weise abzuspalten, sind solche geistigen Kunststücke mühsam, sinnlos und unmöglich.

An diesem Punkt wird auch die Tendenz losgelassen, sich auf etwas zu fixieren. Gezielte Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Aufgabe (z. B. Lesen, Schreiben oder Autofahren) kann immer noch mühelos auf Autopilot erfolgen. Das bedeutet, dass all diese alltäglichen Aktivitäten frei nach Bedarf erfolgen können. Doch jeder Versuch, Erfahrungen bewusst zu ergreifen, um sie zu stabilisieren oder zu überprüfen, ist wie der Versuch, mit den Händen nach Wasser zu greifen. Alles, was man zu greifen versucht, scheint durch die Finger zu fließen, nicht greifbar, nicht zu lokalisieren, nicht zu fixieren. Man braucht sich nicht daran zu erinnern, wie man Fixierungen loslässt; man hat vergessen, wie man sie überhaupt festhalten kann. (Bei manchen Menschen äußert sich das auch in einem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses).

Mit dem Wegfall von Glaubenssystemen, Identifikationen und Fixierungen geht eine einfache, klare Authentizität einher. Vorbei sind all die verworrenen Vorspiegelungen und Ausflüchte, auf die man sich früher verlassen konnte, um sein Leben, seine Realität oder seine Gefühle zu bewältigen. Es gibt auch eine Befreiung von selbstverursachtem Leid. Unangenehme Erfahrungen werden weiterhin auftreten, dessen kannst du dir sicher sein. Körper und Geist können immer noch Schmerz empfinden. Schmerz, dem man während des Loslassens begegnet, kann sogar sehr stark sein, ohne die Fähigkeit ihn bewusst zu bewältigen, indem man ihn in Leerheit auflöst, ihn in die Einheit aufnimmt, ihn in Energie abbaut oder ihn auf andere Weise verwandelt. Da es aber keine Unterscheidung zwischen den Aspekten des Ganzen mehr gibt, gibt es bezogen auf unangenehme Empfindungen auch keine Bruchstellen, Konflikte oder Spannungen mehr. Hätte, könnte und sollte haben keinen Platz mehr. Stattdessen herrscht ein grundlegender Gleichmut gegenüber allen Erfahrungen. Es ist einfach immer so, dass nichts anders sein kann, als es ist.

Nachdem all dies gesagt wurde, wollen wir noch einmal betonen, dass das Loslassen der Fäden ein Prozess ist, der Zeit braucht. Selbst Jahre nach Beginn des Loslassens, kann ein unerwartetes Ereignis von gewissem Ausmaß – etwas im täglichen Leben wie ein Unfall oder die Krankheit eines geliebten Menschen oder etwas anderes – die Fäden wieder aktivieren. Es kann sich so anfühlen, als würde man wieder eine Art Beziehung zu einem Faden eingehen oder als würde man eine Verfilzung oder einen Haken freilegen, die inaktiv waren. Nimmst du den Faden wieder auf, kann es sein, dass eine Ontologie oder eine Identität rekonstruiert wird, die mit dem Faden verbunden ist. Eine ganze Welt von Bedeutungen und sogar ein Selbst könnten wieder zum Vorschein kommen. Sogar Fixierungen und das Festhalten an Erlebnissen können wieder auftauchen und vielleicht sogar für eine kurze Zeit bestehen bleiben.

Es ist völlig normal, dass ein Faden auf diese Art vorübergehend wieder aufgenommen werden kann. Es ist ein Zeichen dafür, dass es einen Aspekt gibt, der noch nicht vollständig losgelassen wurde. Es mag sich so anfühlen, als sei das ein Problem, das gelöst werden muss – aber was kann man schon tun? So wie du dich nicht dazu zwingen kannst, etwas zu vergessen, denn je mehr du versuchst, es zu verdrängen oder zu verleugnen, desto mehr erinnerst du dich selbst daran, so kannst du dich auch nicht dazu zwingen, die Fäden loszulassen. Je mehr du hingegen annimmst, was ist, desto mehr kann sich das ganze System entspannen und auf natürliche Weise abschalten. Und je entspannter es ist, desto mehr Dinge können sich einfach von selbst auflösen. Das Leben kann einfach so sein, wie es ist, ohne dass man es interpretieren, konzeptualisieren, kommentieren oder weiter ausarbeiten muss. Ohne die Notwendigkeit, ihm einen Sinn zu geben, Ontologien zu entwickeln, sich mit ihm zu identifizieren, es zu fixieren, zu hinterfragen oder auf andere Weise einen Teil vom Ganzen zu trennen.

Je weiter dieser Prozess voranschreitet, desto mehr wird die Idee eines spirituellen Weges immer irrelevanter. An einem bestimmten Punkt wird aus der Nach-Erleuchtung die Nach-Spiritualität insgesamt. Da es in Bezug auf die Fäden keine weiteren Entwicklungspfade und nichts mehr zu erreichen gibt, macht es auch keinen Sinn mehr, sich auf eine der Praktiken einzulassen. Allmählich vergisst man wie es war, jemals zu denken, dass die Fäden wichtig sind. Bewusstsein und Wahrnehmung, Heiligkeit und Energie, Konditionierung und Integration, Piloten und Autopiloten – all das erscheint wie ein ferner Traum, ein Film, den du vor vielen Jahren einmal gesehen hast und an den du dich kaum noch erinnern kannst.

Eines Tages dämmert es dir, dass die Vorstellung von Erwachen selbst jede Bedeutung verloren hat. Nicht, weil jemals ein endgültiger Zustand des Erwachens gefunden wurde, sondern weil jeder einzelne Aspekt des Erwachens einfach aufgehört hat, in irgendeiner Weise bedeutungsvoll zu sein. Du magst zwar bestimmte Redeweisen annehmen, um andere zu lehren oder ihnen zu helfen, aber an diesem Punkt ist klar, dass Berge eben doch nur Berge sind. Der einzige Unterschied zwischen dir und allen anderen ist, dass du aufgehört hast, diese Tatsache zu hinterfragen, zu untersuchen oder darunter zu leiden. Du hast gelernt, das Gebiet einfach zu begehen. Landkarten sind weder sinnvoll noch notwendig.