FAEden des Erwachens
Eine multidimensionale Karte der spirituellen Reise
Von Pierce Salguero | Übersetzt von Sabina Witzel und Yvonne Unger

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Lass uns dranbleiben, denn ich werde unser Modell noch ein bisschen komplexer machen, indem ich einen weiteren Faden einführe, über den wir noch nicht gesprochen haben: den Faden deines gewöhnlichen, alltäglichen Lebens. Dieser Faden war dein ganzes Leben lang präsent und umfasst alle gewöhnlichen Aktivitäten, Gedanken, Gefühle, Beziehungen, Interaktionen, Rollen und Ziele, die du hattest. (Es ist möglich, dass einige der anderen Fäden auch schon immer da waren. Manche Menschen berichten zum Beispiel, dass sie, soweit sie sich erinnern können, nie ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatten oder immer schon Energien gespürt haben oder übersinnliche Kräfte besaßen oder was auch immer).

Der Prozess des Flechtens webt auch den Faden des täglichen Lebens ein. Neue Fäden, die sich auf besonders dramatische Weise öffnen, können dazu führen, dass der Faden deines alltäglichen Lebens eine Weile verdrängt oder verdeckt wird. Es kann eine Zeit der Anpassung geben, in der es dir so vorkommt, als könntest du dich einfach nicht auf die normalen täglichen Aktivitäten wie Arbeit, Autofahren, Kinder versorgen oder Hausarbeit einlassen. Das ist eine der möglichen Gefahren des Erwachens, die manche Menschen härter trifft als andere, je nachdem, wie dick die fraglichen Fäden sind. Mit der Zeit kehrt jedoch früher oder später eine gewisse Normalität ein, da die tiefgreifenden Auswirkungen deiner Erwachenserfahrungen von deinem System absorbiert oder verdaut werden und das normale Leben wieder in den Fokus rückt.

Es wird auch Zeiten geben, in denen weltliche Belange in den Vordergrund drängen, deine Aufmerksamkeit fordern oder erfüllender werden und sogar spirituelle Belange eine Zeit lang verdrängen. Du könntest zum Beispiel zwischen der Göttin, die die Quelle des gesamten Kosmos ist, dem völligen Nichts und einem ganz normalen Menschen, der sein normales Leben führt, hin und her schwanken. Wenn der Faden des normalen Lebens oben ist, sagst du vielleicht: “Ich fühle mich wieder menschlich” oder “Alles fühlt sich wieder ganz normal an“. Vielleicht hast du das Gefühl, dass der Sinn des Erwachens darin besteht, deine Verwirklichung in der normalen Welt zu leben, Menschen zu helfen und zu lehren und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Du könntest das Gefühl haben, dass das Erwachen sich im physischen Körper erden und verkörpern muss, bis in die Knochen und Zellen hinein. Vielleicht hast du das Gefühl, dass du dich mit medizinischen Problemen, deinem Sportprogramm, deiner Ernährung, deinen Verhaltensweisen, deinem Lebensunterhalt oder anderen Aspekten deines täglichen Lebens auseinandersetzen musst, um sie mit den Erkenntnissen deines Erwachens in Einklang zu bringen. Steht dieser Faden im Vordergrund, dann hat er seine eigene Ontologie, Weltanschauung und Werte, die am wichtigsten zu sein scheinen, wie bei allen anderen Fäden auch.

Was dir beim Flechten auffallen könnte, wie auch immer es sich entfaltet, ist, dass jeder Faden, der nach vorne kommt, um die nächste Wicklung im Geflecht zu bilden, nie genau derselbe ist wie beim letzten Mal. Er wird immer in einem neuen Licht gesehen, das von den vorherigen Fäden “gefärbt” oder „gebeizt“ ist. Erinnerst du dich an das Bild von den Fäden, die vertikal im Raum hängen, jeder in einer anderen Farbe? Stell dir vor, dass jedes Mal, wenn du nach einem Faden greifst, um ihn über die anderen zu flechten, ein bisschen von der Farbe dieses Fadens auf deine Hände abfärbt. Und wenn du dann nach dem nächsten Faden greifst, überträgst du die Farbe an deinen Händen auf diesen Faden, während die Farbe des neuen Fadens deine Hände noch weiter einfärbt. Waren die Farben der Fäden zu Beginn des Flechtens noch leuchtend rein, verschmieren sie am Ende des Geflechts immer mehr miteinander, je enger und schneller das Flechten wird. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn du am Ende des Zopfes ankommst? Alles wird verschmiert und verwischt sein, bis alles zu einer einzigen Farbe geworden ist.

Mit dem Begriff “Integration” bezeichne ich die Prozesse, bei denen sich die Erkenntnisse, Perspektiven und Weisheiten der einzelnen Fäden abreiben und ineinander übergehen. Diese gemischten Erfahrungen können jede Form annehmen und zwei, drei, vier oder mehr Fäden gleichzeitig verbinden. Jemand könnte zum Beispiel sagen: “Alles ist gleichzeitig gänzlich voll und vollkommen leer” oder “Die gesamte Realität ist potenzielle Energie, die von göttlicher Intelligenz in die Manifestation gebracht wurde”. Diese Vielschichtigkeit der Erfahrung ergibt rational oder logisch keinen Sinn, wird aber durch die Erfahrung immer zutreffender. Dieses paradoxe oder “Sowohl-als-auch”-Gefühl könnte für dich sogar das Faszinierendste am Integrationsprozess werden.

Dieser Prozess der Integration, der die Grenzen zwischen den Fäden verwischt, betrifft auch das gewöhnliche Leben. Solange es eine Kluft zwischen spirituellen Erfahrungen auf der einen Seite und den alltäglichen Aktivitäten auf der anderen Seite gibt, bist du noch relativ unintegriert. Bei manchen Menschen beginnt die Integration in das alltägliche Leben vielleicht schon zu Beginn des Erwachensprozesses. Diese Menschen erleben in der Regel nie einen großen Bruch zwischen spirituellen Erkenntnissen und der gewöhnlichen menschlichen Welt. Bei den meisten Menschen scheint diese Art der Integration jedoch erst relativ spät im Flechtprozess stattzufinden.

Der Prozess des Aussöhnens von spirituellem Erwachen mit dem täglichen Leben, kann Phasen großer Umwälzungen mit sich bringen, aber auch relativ reibungslos verlaufen. Du könntest zum Beispiel feststellen, dass du deinen Job wechseln, bestimmte Beziehungen beenden oder bestimmte Gewohnheiten aufgeben musst, um in Einklang mit deinen neuen Erkenntnissen zu leben. Vielleicht stellst du auch fest, dass du dein Alltagsverhalten ändern musst. Viele Menschen haben zum Beispiel das Gefühl, dass es einfach unmöglich ist, zu lügen, zu stehlen, anderen zu schaden oder andere unethische Handlungen zu begehen. Vielleicht stellst du aber auch fest, dass du bereits mit einem hohen Maß an Rechtschaffenheit und Integrität gelebt hast und du deinen Lebensstil nicht großartig ändern musst.

Integration bedeutet oft auch eine Veränderung in der Identität. Vor dem Erwachen ist die Identität der meisten Menschen fest an den Faden des gewöhnlichen Lebens gebunden. Sobald sich die anderen Fäden öffnen, bewegt sich die Identität hin zu anderen Fäden. Anstelle von „Ich bin ich“ könnte es heißen “Ich bin Leerheit”, “Ich bin die Göttin“, “Ich bin das Licht” oder “Ich bin ein Bodhisattva”. Während des Flechtprozesses kann die Identität hin und her wechseln, je nachdem, welcher Faden gerade am Aufsteigen ist, und sie kann auch immer wieder zu „Ich bin doch nur ich“ zurückkehren. Jedes Mal, wenn die Identität wechselt, ist sie jedoch weniger gewiss.

Gegen Ende des Integrationsprozesses, wenn sich die Farben wirklich vermischen, scheint die Realität mehr und mehr einem Hologramm zu gleichen, dessen Merkmale von der Position des Betrachters abhängen. Es ist, als hättest du verschiedene Linsen oder Blickwinkel, aus denen du die Realität siehst und du kannst nach Belieben zwischen ihnen wechseln. Wenn du etwas so siehst, erscheint es so; wenn du es anders siehst, erscheint es anders. Deine Identität kann ebenso fließend werden, mit der Beweglichkeit, zu jeder Zeit alles sein zu können, was du willst oder brauchst.

Am Ende des Flecht- und Integrationsprozesses sind diese verschiedenen Perspektiven und Identitäten alle locker gehalten und gleichzeitig präsent, auch ohne dass wir zwischen ihnen wechseln müssen. Stell dir den Zopf vor, den wir geflochten haben. Stell dir vor, dass die einzelnen verflochtenen Stränge am Ende zu einer einzigen Quaste verschmelzen, in der sie nun vollständig ineinander übergegangen sind. Alle Farben sind miteinander vermischt worden. (In der Einleitung findest Du eine Abbildung, wie dies aussehen kann.) Es gibt jetzt keine Unterscheidung mehr zwischen den Fäden der Leerheit, der Göttlichkeit, der Energie, der Seele und der Individualität. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Leerheit, Liebe, Ausstrahlung, der Psyche und der gewöhnlichen materiellen Welt. Es unterscheidet sich nicht, die Leerheit zu sein, die Göttin, das Licht, ein Bodhisattva oder das gute alte Ich. Alle Fäden sind vollständig zu einem multidimensionalen Ganzen verschmolzen. Die Realität scheint ein einziges, facettenreiches Ganzes zu sein, das alles umfasst, was sein könnte und in dem alle Erkenntnisse aller Fäden gleichzeitig präsent sind.

Normalerweise stehen dir bei der Integration nur die Fäden zur Verfügung, die sich geöffnet, vertieft und miteinander verflochten haben. Wenn du noch nie einen Faden de Energie hattest, solltest du nicht unbedingt erwarten, dass er sich jetzt plötzlich entwickelt. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass dies geschieht. Es ist möglich, dass sich sogar jetzt noch ein neuer Faden auftut, der sich sehr schnell vertieft und Teil der Synthese wird.

Auf der anderen Seite ist es ganz normal, dass sich während des Integrationsprozesses neue und überraschende Erfahrungen mit den zuvor geöffneten Fäden intensivieren. An diesem Punkt können die tiefsten Zustände der Leerheit auftreten, die du je erlebt hast, ebenso wie die brillantesten Erscheinungen von Liebe und Göttlichkeit. Mächtige energetische Phänomene können hervorbrechen, ebenso wie schwere Traumata, Fragen Leben und Tod betreffend und anderes, tief verankertes unbewusstes Material. Während der Integration kannst du dieselben Leitfragen und Praktiken anwenden, die es dir ermöglicht haben, dich während des Flechtprozesses in die Fäden zu vertiefen. Da nun aber nichts mehr isoliert innerhalb eines einzelnen Fadens geschieht, können die Werkzeuge viel vermischter und fließender genutzt werden. Alles ist möglich, sowohl in Bezug auf das, was auftaucht, als auch in Bezug auf die Art und Weise, wie du ihm begegnest, damit arbeitest und es in das Ganze einbeziehst.

Genauso wenig wie man im Voraus sagen kann, wie viele Fäden bei einem bestimmten Menschen aktiviert werden oder wie dick sie sein werden, so kann man auch nicht sagen, wie lang das Geflecht sein oder wie viele Windungen es haben wird. Diese Landkarte zeigt die wichtigsten Prozesse im Erwachen auf: Öffnen, Vertiefen, Flechten, Integrieren und im nächsten Kapitel das Loslassen. Sie erfasst jedoch nicht die Anzahl der einzelnen Zustände oder Phasen in diesen Prozessen. In diesem Modell können wir lediglich sagen: Du wirst so viele Fäden wie aktiv sind, so lange flechten, bis du sie zum Ende hin vertieft hast, solange bis alle Fäden in das Geflecht aufgenommen, integriert und bis sie vollständig miteinander verschmolzen sind.

Zweifellos werden diese Prozesse manchmal wunderbar und manchmal ziemlich herausfordernd sein. Doch egal, was auf dich zukommt, webe einfach weiter. Passe deine Praxis immer wieder an, um in den Faden einzutauchen, der am aktivsten ist. Stelle dir immer wieder die Leitfragen, die dir helfen, die einzelnen Fäden tiefer zu ergründen. Achte auf Veränderungen im Flechtprozess, damit du die richtigen Ressourcen und Werkzeuge einsetzen kannst und genieße die Momente, in denen du das Gefühl hast, dass Integration stattfindet.

Irgendwann im Laufe dieses Prozesses stoßen die meisten Menschen auf eine scheinbar undurchdringliche Mauer der Existenzangst (oder, bei dir vielleicht, auf mehrere Mauern zu verschiedenen Gelegenheiten). Diese Angst hat so gut wie immer mit deinem Widerstand dagegen zu tun, dass etwas Grundlegendes in die Integration einbezogen wird. Selbst wenn du alles andere schon der Integration überlassen hast, hältst du ein letztes Stück zurück, von dem du das Gefühl hast, dass du es nicht loslassen oder aufgeben kannst. Dieses letzte Stück ist bei jedem Menschen anders. Es kann die Angst sein, verrückt zu werden, die Angst vor dem Tod, die Angst, dass das eigene Leben aus den Fugen gerät, die Angst, die Familie zu verlieren, die Angst, eine liebgewonnene Idee aufzugeben, oder irgendeine andere Angst, die den Kern deines Wesens trifft und einfach nicht verhandelbar scheint.

Diese Existenzangst ist wie der letzte Atemzug des Egos, das verzweifelt versucht, die Illusion der Kontrolle aufrechtzuerhalten. So furchteinflößend sie auch erscheinen mag, diese Angst lässt sich genauso behandeln wie alle anderen Verstrickungen und Knoten, denen du auf deinem Weg begegnet bist. Bleibe behutsam, um das ganze System nicht zu überwältigen oder zu traumatisieren und frage dich geduldig und beharrlich: Ist diese Angst wirklich, tatsächlich vorhanden? Ist sie wirklich etwas, das von der Liebe oder der Göttlichkeit getrennt ist? Ist sie wirklich so fest, statisch und nicht dynamisch? Ist sie wirklich so unlösbar, unannehmbar und unwillkommen? Es kann einige Zeit dauern, aber wenn dieser letzte Widerstand in das Ganze integriert ist, kann das Geflecht endlich vollendet werden.

Irgendwann wird der Prozess zu einem Ende kommen. Du wirst wissen, wenn es soweit ist. Jeder Faden wird in seiner maximalen Version erlebt worden sein – die gesamte Realität umfassend – und jeder ist vollständig in die anderen Fäden integriert. Die Realität wird als ein einziges leeres, göttliches, pulsierendes, tief bedeutungsvolles und zugleich völlig gewöhnliches Ganzes erlebt. Sie wird als facettenreiche, multidimensionale, vereinigte Vollkommenheit wahrgenommen. Menschen, die den Integrationsprozess abgeschlossen haben, suchen nicht mehr nach irgendetwas, sondern beschreiben das, was sie tun, als einfaches Erkunden oder Spielen in der Weite der Realität. Sie sind befreit, frei, erleuchtet.