FAEden des Erwachens
Eine multidimensionale Karte der spirituellen Reise
Von Pierce Salguero | Übersetzt von Sabina Witzel und Yvonne Unger

Flechten

Ein Vorteil einer Landkarte des Erwachens, die auf der Metapher der Fäden basiert, ist, dass wir der Vielfalt der Erfahrungen, die Menschen im Prozess des Erwachens machen, flexibel Rechnung tragen können. Die erste Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin anzuerkennen, dass unterschiedliche Menschen verschiedene aktive Fäden haben. Ich habe zum Beispiel mehrere Menschen getroffen, die anscheinend ein einfädiges Erwachen erlebt haben. Sie hatten eine anfängliche Erfahrung der Leerheit und vertieften sich dann mehr und mehr in diese besondere Art der Erkenntnis, ohne dass sie von diesem Weg abgewichen wären. Sie mögen auf ihrem Weg ein paar Epiphänomene erlebt haben, die mit Liebe, Göttlichkeit, Energie oder dem unbewussten Material der Psyche zu tun hatten, aber der Hauptfaden ihrer spirituellen Erkenntnis drehte sich immer um Leerheit.

Dieses Muster entspricht ziemlich genau den Modellen einiger Theravada-, Zen- und Advaita-Schulen. Eine andere Art des einfädigen Erwachens ist der Weg, der in der christlichen Mystik und ähnlichen deistischen Pfaden beschrieben wird. Hier entwickelt sich eine anfängliche Erfahrung des Öffnens für Gott zu einer sich vertiefenden Erkundung des Fadens der Einheit, wobei die anderen Fäden nur epiphänomenal erfahren werden.

Ein einfädiges Erwachen ist klar genug, jedoch hatten die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, häufiger mindestens zwei aktive Fäden. Wenn mehr als ein Faden am Erwachensprozess eines Menschen beteiligt ist, erfährt er normalerweise ein Pendeln zwischen den beiden Fäden, was desorientierend und verwirrend sein kann. Ich nenne dies “Flechten”. Eine Metapher, die es unserem Modell meiner Meinung nach ermöglicht, die enormen individuellen Unterschiede von Mensch zu Mensch noch besser zu erfassen.

Um dies zu verdeutlichen, können wir uns zum Beispiel ein Bild von einem Menschen machen, der drei aktive Fäden hat. Stell dir drei Fäden vor, die vertikal im Raum hängen, jeder in einer anderen Farbe. Als Nächstes stell dir vor, dass du die Fäden zu einem Zopf flechtest. Hast du schon einmal Haare geflochten? Wenn ja, wirst du dich daran erinnern, dass du eine der äußeren Strähnen ergreifst und sie auf die anderen legst. Dann nimmst du die äußere Strähne auf der gegenüberliegenden Seite und legst sie darüber, und dann noch eine, und dann noch eine. Willst du einen perfekten Zopf flechten, machst du das in einem genauen Muster: 3-1-2-3-1-2-3-1-2, usw. Stellen wir uns stattdessen vor, das Geflecht ist nicht perfekt, sondern zufällig und ungleichmäßig. Es gibt Zeiten, in denen ein Faden lange oben liegt und die Sicht auf die anderen versperrt. Dann gibt es vielleicht eine zeitlang eine schnelle, enge Verflechtung der anderen Stränge und dann wieder eine lange Phase, in der ein anderer Faden dominiert. Wenn du dieses Bild im Kopf hast, füge einen vierten Faden hinzu, um das Geflecht noch komplizierter und unvorhersehbarer zu machen.

Ich vertraue darauf, dass du die Metapher verstehst, aber lass uns ein paar hypothetische Beispiele dafür nehmen, wie dieser Flechtprozess in verschiedenen Fällen ablaufen könnte:

  • Person A hat einen zweifädigen Erwachensprozess. Eine erste Erfahrung der Präsenz Gottes während der Meditation zeigt die Öffnung des Fadens der Einheit an. Die Welt scheint zu funkeln und vor Liebe zu glitzern. Nachdem sie sich ein Jahr lang in das glückselige Gefühl vertieft hat, eins mit dem Göttlichen zu sein, tauchen eines Tages, scheinbar aus dem Nichts, Angst und Schrecken auf. Dies steigert sich zu einer dunklen Nacht der Seele, die die nächsten zehn Monate andauert und in der viele persönliche Traumata, Schmerzen und Ahnenthemen auftauchen. Der Faden des Unbewussten ist jetzt so dick und im Vordergrund, dass die Liebe, die vorher so unbestreitbar war, nirgends zu sehen ist. Schließlich lichtet sich jedoch die Dunkelheit und der erste Faden kommt eine Zeit lang wieder zum Vorschein. In den kommenden Jahren kommt es zu weiteren Verdrehungen des Geflechts, die zwischen diesen beiden Fäden pendeln, während sie sich gegenseitig vertiefen.
  • Person B hat einen dreifädigen Erwachensprozess. Eine anfängliche Öffnung der Kundalini löst ein Jahrzehnt lang andauernde Phase unerklärlicher energetischer Phänomene in Form von körperlichen Schmerzen, Empfindlichkeiten und anderen unangenehmen Symptomen aus. Plötzlich verwandeln sich nach all dieser Zeit die Schmerzen in ein glückseliges Empfinden für die Heiligkeit des Körpers. Der Faden der Einheit tritt nun in den Vordergrund, denn der Körper verwandelt sich in eine Art ätherisches, engelhaftes Wesen, das aus jeder Pore Segen ausstrahlt. Ein Jahr später bricht die Erfahrung von Person B als göttliches Wesen, in eine krasse Version des Nichtselbst zusammen, das sich nun radikal entpersönlicht, hohl und geisterhaft anfühlt. Nach ein paar Wochen, in denen sich alles unwirklich anfühlt, setzen die Kundalini-Symptome im Körper wieder ein. Ein weiterer Zyklus hat begonnen, aber dieses Mal läuft er schneller ab.
  • Person C hat einen vierfädigen Prozess. Er beginnt damit, dass eine große Lebenstragödie eine tiefe existenzielle Krise verursacht. Dieses Ereignis löst furchterregende Visionen von Geistern, Ahnengeistern und anderen dunklen und düsteren Wesen aus. Über mehrere Monate hinweg nimmt die Intensität dieser Erlebnisse zu, bis ein Wendepunkt erreicht ist. Person C übergibt ihr Leben an Gott und bittet um Hilfe. In diesem Moment taucht eine Vision der Jungfrau Maria auf und mit ihr ein tiefes Gefühl der Heiligkeit, des Schutzes und der Sicherheit. Während ihr heilendes Licht jede Spur von Leid wegwäscht, verwandelt sich der Körper von Person C in eine pulsierende Kugel aus intensiver elektrischer Energie, die immer größer wird, bis sie sich über das ganze Universum ausbreitet. Es fühlt sich an wie der Urknall, der den gesamten Kosmos hervorbringt. Diese Veränderungen (vom Faden des Unbewussten zum Faden der Einheit und dann zum Faden der Energie) geschehen im Laufe von etwa 30 Minuten. Ein paar Minuten später kollabiert die gesamte Energie wie ein Schwarzes Loch in sich selbst und lässt Person C in einem Zustand unsagbarer Stille und Ruhe zurück. Das ganze Universum ist eine stille, vollkommene Leere. Diese rasanten Erfahrungswechsel sind verwirrend, aber es fühlt sich an, als hätten sich nacheinander vier verschiedene Portale zu einem tiefen Mysterium geöffnet, das noch viele Jahre lang in den Fokus rücken wird.

In den obigen Beispielen siehst du, wie widerspenstig und unvorhersehbar der Flechtprozess ist. Niemand kann vorhersagen, welche Fäden sich öffnen werden oder wann sie es tun. Niemand kann sagen, wie lange sie oben bleiben oder was als Nächstes kommt. Einige dieser Erfahrungen können sich als epiphänomenal erweisen, während sich andere als Fäden mit einem bestimmten Entwicklungspfad herausstellen werden. Vielleicht wird in Zukunft mehr darüber geforscht, warum es solche Unterschiede zwischen den Menschen gibt. Vielleicht entwickeln wir sogar einen Weg, vorherzusagen, wie der Erwachensprozess eines bestimmten Menschen verlaufen wird. Im Moment ist es jedoch ein scheinbar zufälliger Prozess, der nur im Nachhinein entdeckt werden kann und einen Sinn ergibt.

Wie dem auch sei, bestimmte Traditionen neigen dazu, einigen der oben genannten spirituellen Erfahrungen Vorrang vor den anderen zu geben. Jede Tradition schreibt eine Reihe von Praktiken vor, die sich auf die Fäden beziehen, die sie als am wichtigsten erachten. Advaita Vedanta, Theravada-Buddhismus und Zen neigen dazu, wie bereits erwähnt, der Leerheit einen hohen Stellenwert einzuräumen. Die christliche Mystik, der Sufismus, der auf Hingabe basierende Hinduismus und viele Göttinnentraditionen konzentrieren sich eher auf die Einheit. Schamanismus, IFS und verschiedene Formen der jungianischen und traumabasierten Psychotherapie neigen dazu, nur an der Psyche zu arbeiten. Andere Formen der Praxis kombinieren jedoch mehr als einen Aspekt. Der Mahayana-Buddhismus, zum Beispiel, betont sowohl die Leerheit als auch die Einheit. Der Daoismus und viele traditionelle Yogaansätze scheinen im Gegensatz dazu, sowohl die Leerheit als auch den Faden der Energie zu schätzen. Tantrische Traditionen, wie der Vajrayana-Buddhismus und der Kashmirische Shaivismus, scheinen hingegen alle vier Fäden miteinander zu verbinden.

Wenn sie nicht zu den Traditionen gehören, die alle oben genannten Arten von Erfahrungen vollständig einschließen, haben spirituelle Traditionen normalerweise die Angewohnheit, bestimmte spirituelle Erfahrungen als Zeichen des Fortschritts und andere als bedeutungslose Ablenkungen zu betrachten, die man ignorieren sollte. Sie gehen sogar so weit, einige Formen spiritueller Erfahrungen als “Verirrungen”, “Abweichungen”, “Sünden”, “Unreinheiten” oder mit ähnlichen Begriffen zu bezeichnen, die besagen, dass dein Erwachensprozess aus den Fugen geraten ist. (Stell dir zum Beispiel einen einfädigen, christlichen oder buddhistischen Mönch vor, der durch die Öffnung des Fadens des Unbewussten plötzlich Visionen von sexualisierten Dämonen hat. Was würde ihre religiöse Gemeinschaft wohl dazu sagen?)

Meiner Meinung nach ist es richtig, dass du dich nicht auf Epiphänomene fixieren solltest, die für deinen Erwachensprozess nicht zentral sind. Andererseits kann es ziemlich kontraproduktiv sein, einen sich öffnenden Faden zu ignorieren, zu leugnen oder zu verdrängen. Eine meiner größten Hoffnungen beim Schreiben dieses Buches ist, dass das Denken in Fäden dem Leser einen Rahmen und eine Sprache geben kann, die verstehen hilft, was mit ihm passiert, anstatt es zu ignorieren, zu verdrängen oder zu verteufeln. Ich hoffe auch, dass diese Landkarte hilfreich ist, um dich auf Ressourcen und Praktiken hinzuweisen, die besonders gut geeignet sind für den Punkt, an dem du dich in deinem Erwachensprozess befindest. Anstatt dich an eine einzige Meditationstechnik zu klammern und zu erwarten, dass sie dich durchbringt und all deine Bedürfnisse erfüllt, hast du jetzt eine ganze Reihe von verschiedenen Ausrichtungen und Praktiken, auf die du strategisch zurückgreifen kannst.

Liegt zum Beispiel der Faden der Leerheit oben und werden seine Erkenntnisse zu deinem Hauptanliegen, kannst du auf eine Reihe passender Werkzeuge wie Meditation, Selbsterforschung usw. zurückgreifen, um diesen Faden zu vertiefen. Steht aber Einheit im Vordergrund, kannst du die Betonung auf Metta, Tonglen, Gebet, Bhakti und andere Formen der Hingabe legen. Steht die Energie im Vordergrund, kannst du dich auf Yoga, Qigong, Reiki und andere Formen der Energieheilung konzentrieren. Steht die Psyche im Vordergrund, kannst du mehr Zeit mit Aktiver Imagination, luzidem Träumen, schamanischen Techniken und anderen Methoden zur Erkundung des Unbewussten verbringen. (Natürlich sind das nur einige Beispiele aus Tausenden von Praktiken; folge deiner eigenen Intuition und inneren Führung, um herauszufinden, was für dich am besten geeignet ist).

Ich bin der festen Überzeugung, dass es am besten ist, sich von Anfang an mit einer Reihe von Praktiken zu beschäftigen, die alle Themenbereiche abdecken. (Das war der Hauptpunkt für mein Buch A Lamp Unto Yourself.) Da du nie weißt, was in deinem eigenen Prozess auftauchen wird, gibt dir das Vertrautmachen mit Techniken für verschiedene Fäden, von Anfang an einen Werkzeugkasten mit Praktiken an die Hand, für alles was dir begegnen mag. So kannst du dich auf allen Achsen deines Erwachensprozesses leichter vertiefen und weiterentwickeln.

Meiner Erfahrung nach ist es auch hilfreich zu erkennen, dass für die meisten Menschen bestimmte Fäden dicker sind als andere. Erinnerst du dich, als ich die Fadenmetapher zum ersten Mal vorstellte, und sagte, du sollst dir die Dicke von Nähgarn bis Strickgarn vorstellen? Nun, manche Menschen scheinen sehr dünne Fäden der Leerhheit und sehr dicke Fäden der Einheit zu haben oder sehr dünne Fäden der Enerige und sehr dicke Fäden des Unbewussten oder was auch immer. Das bedeutet, dass während des Flechtvorgangs einige Fäden immer mehr Platz und Zeit beanspruchen als andere. Auch hier ist ein Vorteil der mehrfädigen Landkarte, dass wir diese Art von Vielfalt zulassen können. Wir können erkennen, dass es kein Problem oder ein Zeichen dafür ist, dass etwas schief läuft, wenn jemand dazu neigt, mehr Zeit in einer Art von Erwachenserfahrung zu verbringen und sich schneller durch andere zu bewegen. Wenn das bei dir der Fall ist, kann das einfach ein Hinweis darauf sein, dass du für manche Fäden mehr Ressourcen brauchst und Werkzeuge sammeln solltest, als für andere.

Wie auch immer dein eigener Flechtprozess abläuft, es ist wahrscheinlich, dass du ganz in dem Faden aufgehen wirst, der zu einem bestimmten Zeitpunkt zuoberst liegt. Die Einsichten des Fadens können so überzeugend sein, dass alle anderen Perspektiven völlig in den Hintergrund treten. Steht zum Beispiel die Leerheit im Vordergrund, bist du vielleicht erstaunt darüber, dass du jemals denken konntest, dass irgendetwas real ist. Aber wenn der Faden der Einheit wieder zum Vorschein kommt, wird dir vielleicht klar, dass alles, was du je erlebt hast und sogar die Leerheit, immer ein Ausdruck göttlicher Liebe war. Liegt der Faden der Energie oben, erkennst du vielleicht, dass dein ganzer Erwachensprozess immer von grundlegenden energetischen Veränderungen angetrieben wurde und dass diese die ultimative Ursache für all die Leerheit und Liebe sind, die du erlebt hast. Ist der Faden des Unbewussten vorherrschend, erkennst du, dass sich alles einfach nach den Mustern entwickelt, die du in deinen vergangenen Leben oder durch deine Ahnenreihen entwickelt hast, oder was auch immer.

Jeder Faden suggeriert in dem Maße, wie er in den Vordergrund rückt, auch seine eigene Ontologie, sein eigenes jeweiliges Universum oder seine eigene Version der Realität. So können nacheinander scheinbar unvereinbare “ultimative” Wahrheiten auftauchen, von denen eine überzeugender ist als, die andere. Vertiefst du dich immer wieder in den obersten Faden, wirst du das Gefühl haben, dass du zwischen unvereinbaren Weltanschauungen hin und her pendelst. Ist die ultimative Wahrheit, dass die Realität leer ist, oder dass sie Gott ist, oder dass sie Energie ist, oder dass sie eine Projektion deines Geistes ist? Es kann sich anfühlen, als hättest du ein Schleudertrauma, weil du zwischen den verschiedenen Optionen hin- und hergerissen wirst. Du wirst immer unsicherer, was du glauben sollst und was wahr sein könnte.

Es ist aber auch möglich, dass du weniger in den obersten Faden absorbiert wirst, als ich es hier beschreibe. Es kann sein, dass du stattdessen eine Art Verschmelzung erlebst, bei der die Fäden ineinander übergehen (oder gar nicht erst als völlig getrennt erlebt wurden). Anstatt beispielsweise den Faden der Einheit und den Faden der Enerige als klar getrennte Phänomene zu sehen, könntest du stattdessen eine göttliche Energie erleben, die sich wie ein goldenes, liebevolles Strahlen anfühlt. Anstatt zu versuchen, diese Erfahrung dem einen oder dem anderen Faden zuzuordnen, ist es vielleicht sinnvoller, sie als eine Mischung aus beiden zu betrachten. Auch hier kannst du dich frei fühlen, diese Landkarte flexibel einzusetzen, wissend, dass sie ist nur ein Hilfsmittel und nicht das Gebiet selbst ist.

Abgesehen davon kann man wohl sagen, dass sich dein Flechtprozess im Allgemeinen immer mehr vermischt, je tiefer du in die Fäden eindringst. Am Anfang wirst du vielleicht längere Zeit mit dem einen oder anderen Faden obenauf verbringen. Das sind vielleicht Zeiten, in denen du stärker in den obersten Faden vertieft bist. Aber im Laufe der Zeit wirst du wahrscheinlich jeden einzelnen Faden kürzer und weniger intensiv erleben. Wenn die Zöpfe dünner werden und sich enger verflechten, beginnen sie auch miteinander zu verschmelzen.